Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
brauchte er das, um seine Gedanken zu ordnen.
»Nein.« Es klang trotzig.
»Du darfst mir nicht verbieten, mit meinem Sohn zu sprechen, das weißt du. Niemand darf das einer Mutter verbieten. Du kennst diese Regel.«
Es war nichts als ein Versuch, doch ihre Worte schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Zumindest schlug er nicht erneut zu und verließ einfach die Zelle. Er stand reglos da und schien nachzudenken.
»Ich kenne die Regel nicht.«
Kerstin ging nicht auf seine Bemerkung ein. »Ich will mit meinem Sohn sprechen, weil er sich entschuldigen muss. Er ist unglücklich und wird sich erst dann wieder besser fühlen, wenn er sein Unrecht zugibt und um Verzeihung bittet.«
»Welches Unrecht?«
»Eine Frau ist gestorben. Sie war auch eine Mutter. Und ich weiß, dass sie noch nicht hätte sterben dürfen. Mein Sohn muss sich dafür entschuldigen. Dann kann ihm die tote Mutter verzeihen, und es geht ihm wieder besser.«
Sein Blick wurde ruhiger. »Wie geht es ihm besser?«
»Er kann dann wieder froh sein und ist nicht mehr unglücklich wie jetzt.« Mit einer fließenden Bewegung nahm sie sich Rock und Bluse und zog die Sachen über. Er beobachtete sie nur, sagte aber nichts. »Können wir?« Sie sah ihn herausfordernd an.
Es fühlte sich wie ein Sieg an, als er sie ohne Gegenwehr aus der Zelle treten ließ und ihr folgte, während sie zum Videozimmer hinüberging. Kurz sah sie sich im Zimmer nach etwas um, das sie greifen und ihn überwältigen konnte. Doch sie machte sich nichts vor. Sie war im achten Monat schwanger und hatte in letzter Zeit gewaltig an Kraft verloren. Nie und nimmer würde sie ihn niederschlagen und fliehen können. Das Einzige, was sie als Waffe einsetzen konnte, war ihr Verstand.
Bereitwillig nahm sie in dem Lehnstuhl Platz, vor dem das Stativ mit der Kamera stand. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen.
»Könntest du bitte die Kamera bedienen?«
Mechanisch folgte er der Aufforderung, ging hinüber und schaltete das Gerät ein.
Kerstin räusperte sich kurz und begann zu sprechen. Ganz genau wählte sie ihre Worte. Sie sprach, als wende sie sich tatsächlich direkt an ihren Sohn. Als Erstes sagte sie ihm, dass sie ihn liebe und immer lieben werde, ganz gleich, was er tat. Dann veränderte sie ihre Stimme, wurde ernster, mahnend. Eindringlich wies sie ihr imaginäres Gegenüber darauf hin, dass er einen Fehler gemacht habe und hierfür die Folgen zu tragen hätte. Weiter sagte sie, dass sie wisse, was für ein guter Junge er sei und wie schlecht es ihm derzeit ginge. Und dass sie ihn verstehen könne. Deshalb müssten sie gemeinsam einen Weg finden, damit er die schwere Last nicht weiter tragen müsse. Spontan kam ihr der Einfall, das Ganze mit einer Art Test zu beenden, um zu sehen, inwieweit sie überhaupt Einfluss auf den Mann nehmen konnte, der sie seit Wochen gefangen hielt.
»Als Wiedergutmachung bitte ich dich, Nicole und mir Kleidung zu besorgen, die wir immer tragen können. Bitte sorg dafür, dass wir sie spätestens morgen haben. Das ist deine Wiedergutmachung. Dann ist deine Schuld beglichen, und du wirst dich besser fühlen.«
Sie stand auf. »Danke.«
»Was ist, wenn er dich gar nicht gehört hat?«
»Das hat er. Ich weiß es. Mutter und Sohn haben die Aufgabe, einander beizustehen. Glaub mir. Er wird seinen Teil erfüllen und dann spüren, wie viel besser es ihm geht. Ich vertraue auf meinen Sohn.« Damit verließ sie das Videozimmer und ging wieder in ihre Zelle zurück. Dort zog sie die Kleidung aus, hängte sie ordentlich auf und legte sich auf ihre Pritsche. Sie spürte seine Blicke, die ihr folgten. Kurze Zeit später tauchte er vor ihrer Zelle auf und schloss wieder ab. Dann verschwand er.
Erschöpft war sie eingeschlafen. Das Quietschen des Schlosses weckte sie auf, und es musste bereits Morgen sein, denn in der Gasse vor ihrer Zelle war ein schwacher Lichteinfall zu erkennen. Schweigend beobachtete sie, wie er ihr einen Stapel Kleidung in die Zelle legte, wieder hinausging und abschloss. Dabei trafen sich ihre Blicke.
»Sag bitte, geht es meinem Sohn besser?« Ihre Stimme klang sanft, fast liebevoll.
»Ja.«
Sie lächelte. »Gut. Ich danke dir.« Sie bückte sich und nahm die Kleidung mit zu ihrer Pritsche hinüber. Es schien ihr wie ein Hochgenuss, das erste Mal seit Wochen nicht mehr nackt seinen Blicken und den kalten Wänden ausgesetzt zu sein.
Er drehte sich um, ging zur nächsten Zelle, schloss kurz auf und danach wieder ab. Kerstin lächelte in
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