Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
von einer Mutter haben wollte. Vielleicht hatte sie sich geweigert, sein Spielchen mitzuspielen. Es war nicht sicher, ob sie noch am Leben war. Bei diesen Aufnahmen war eine Menge Wut im Spiel. Und sie kannten noch nicht einmal den Namen der Frau, deren Gesicht von etlichen Verletzungen gezeichnet war. Wie lange sie wohl schon in der Gewalt des oder der Entführer war? Die Variante mit den Brüdern hielt Falko für immer wahrscheinlicher. Zwei Charaktere würden auch das ambivalente Verhalten erklären. Den brutalen Mord an der Krankenschwester, zwangsernährt mit ihren eigenen Fäkalien. Dann die vergewaltigten Pfleger. Wieder wanderten seine Gedanken zu der ihnen unbekannten Frau vor der Kamera. Wenn sie schon eine Zeitlang von ihm gefangen gehalten worden war, musste sie wissen, was sie zu tun hatte, um das Martyrium zu überleben. Kerstin Sommer hatte es gewusst. Sie hatte sein Spiel mitgespielt, wirkte konzentriert. Falko trat einen Schritt zurück, betrachtete noch einmal das Modell. Dann schloss er die Augen und begann mit seinem Ritual. Zweihundert, einatmen, einhundertneunundneunzig, ausatmen, einhundertachtundneunzig, einatmen, einhundertsiebenundneunzig, ausatmen. Er zählte immer weiter. Mit jedem Atemzug spürte er die Ruhe, die ihm die Methode der Autosuggestion verlieh. Bilder tauchten auf und verschwanden wieder, wurden durch andere ersetzt. Gesprochene Sätze, Wortfetzen, dann wieder das angstverzerrte Gesicht Kerstin Sommers auf dem Video. Ihre Nacktheit, der nach vorn prangende Bauch. Er öffnete die Augen, trat seitlich an das Modell, beobachtete die Szene von dem Standpunkt aus, an dem er einen weiteren Täter neben der Kamera vermutete. Er saß da, atmete ruhig, während sein Komplize sich am Leiden der Schwangeren befriedigte. Was war das für ein Mensch? Ein passiver, erkannte Falko. Der andere war der Aktive, der schlug, verhöhnte, forderte. Dieser hier nicht. Wieder musste er an die Brüder denken. Was hatte der Aktive noch gesagt: »Was würdest du tun, um deinen Sohn vor mir zu schützen?« Cornelsen lief es eiskalt den Rücken hinunter. Konnte das sein? Hatte sie deshalb an der Kamera vorbeigeblickt.
Er lief so schnell er konnte die Stufen hinauf, griff nach seinem Handy, das auf der Kommode im Flur lag. Harald Kunst meldete sich nach dem dritten Klingeln.
»Falko?«
»Ja! Entschuldige die späte Störung, aber mir ist da eben etwas aufgefallen. Sag mal, Kerstin Sommer, hat sie einen Sohn? Vielleicht aus einer früheren Beziehung?«
Harald schwieg kurz. »Ähm, nein. Das Kind mit dem sie schwanger ist, wird ihr erstes sein.«
»Sie hat also bisher keinen Sohn?«
»Nein! Worauf willst du hinaus?«
»Der Entführer hat sie aufgefordert, ihm zu beschreiben, was sie mit ihm tun würde, wenn er ihrem Sohn zu nahe käme. Woher will er wissen, dass es ein Sohn wird?«
»Das könnte er höchstens, wenn er ihr Frauenarzt wäre.« Er machte eine kurze Pause. »Die Brüder. Einer von den beiden ist Arzt.« Haralds Stimme überschlug sich.
»Genau daran habe ich auch gedacht«, sagte Falko.
»Ich kümmere mich sofort darum und ruf dich gleich morgen wieder an.«
»Oder auch heute Nacht. Melde dich, sobald du was rausbekommen hast.«
»In Ordnung. Und danke!« Er legte auf.
Cornelsen hielt das Handy weiter in der Hand, ging kurz in den Keller hinunter, nahm seinen Teller und das Tablett, schaltete das Licht aus und ging wieder hoch. Als er das Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte, überkam ihn der Wunsch, nun doch einen Wein zu trinken. Er hatte das Gefühl, dass sie soeben einen Durchbruch erzielt haben könnten. Diesmal verwehrte er sich den Wein nicht.
19
Samstag, 10 . August, 21 . 50 Uhr
Kerstin hatte registriert, dass er Nicole in ihre Zelle zurückgebracht hatte. Sie lebte also. Kerstin hatte nur einen kurzen Blick auf sie werfen können, als ihr Peiniger Nicole an ihre Zelle gedrückt hatte, um die Tür aufzuschließen. Nicoles geschundener Körper war übersät mit roten und blauen Flecken. Eine Augenbraue war aufgeplatzt und mit einer blutigen Kruste überzogen, der gesamte Halsbereich war von Hämatomen übersät. Ihr Gesicht war eine einzige, wunde Schwellung. Grob hatte ihr Peiniger Nicole an den Haaren von den Gitterstäben gerissen und sie in ihre Zelle zurückgestoßen. Dann war er einfach gegangen. Kerstin wünschte sich, irgendetwas tun zu können. Doch ihre Angst war zu groß, vor dem, was sie erwartete, würde sie zu sprechen wagen. Erst gestern hatte er
Weitere Kostenlose Bücher