Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
Antwort. Doch die Überwindung, die es sie kosten würde, das Video wieder und wieder anzusehen, war allen deutlich ins Gesicht geschrieben. Als sie abbrachen, war es bereits Abend. Falko hatte nicht das Gefühl, dass sie entscheidend weitergekommen wären. Sein Handy klingelte.
»Hier ist Harald. Bist du schon zu Hause?«
»Nein, im Präsidium. Genau wie du, vermute ich.«
»Ganz recht. Wir haben noch an der Auswertung des Videos gesessen. Bei der Frau handelt es sich eindeutig um Kerstin Sommer.«
»Und die andere Frau? Konntet ihr die in der Zwischenzeit auch identifizieren?«
»Nein. Hier liegt keine Vermisstenmeldung vor, die auf sie zutrifft. Ich habe das Bild auch an die Kollegen in den umliegenden Gebieten gegeben, bisher aber noch nichts gehört.«
»Okay. Du sagtest meinem Kollegen, dass sich was Neues wegen des Elektrikers ergeben hätte?«
»Ja. Das Alibi, das er uns gegeben hatte, war falsch. Eine Streife wollte ihn daraufhin zum Verhör abholen, doch er ist untergetaucht. Wir haben eine Fahndung nach ihm rausgegeben. Läuft auf Hochtouren.«
»Ich muss mir noch mal alles durch den Kopf gehen lassen«, seufzte Falko. »Wir waren heute erneut im Haus der Ganter. Wegen des Videos sind wir nicht mehr zur Auswertung gekommen, doch das werden wir morgen als Erstes nachholen. Ich bin sicher, dass sie der Schlüssel ist.«
»Ruf mich an, wenn du was hast. Auch wenn es noch so vage ist.«
Als Cornelsen am Abend nach Hause kam, war er vollkommen ausgelaugt. »Heike?«, rief er, obwohl er wusste, dass er keine Antwort erhalten würde. Er zuckte mit den Schultern, ging in die Küche und griff in das Weinregal, aus dem er einen 1993 er Dornfelder hervorzog. Er nahm sich den Korkenzieher und wollte gerade die Flasche öffnen, als er abrupt in der Bewegung innehielt. Zu oft hatte er schon die Geschichten gehört, dass Menschen plötzlich zu Alkoholikern wurden, weil ihre Ehe kaputt war, sie zu viel Stress oder finanzielle Probleme hatten. Er schob den Wein zurück ins Regal, öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Mineralwasser heraus. Er machte sich drei Brote, stellte alles auf ein Tablett und ging sofort hinunter in den Keller. Noch während er aß, baute er an dem Modell von gestern weiter. Er fügte seitlich Stühle hinzu, nahm die Puppe, die den Entführer darstellen sollte, aus der Position hinter dem Sessel weg und setzte sie an die Seite. Das Stöhnen, als Kerstin Sommer dem Entführer drohte, war Falkos Erachten nach von dort gekommen. Er schob sich ein weiteres Stück Brot in den Mund, erinnerte sich an das Telefon auf dem Schrank. Er suchte nach einem kleinen Gegenstand, den er als Telefonersatz abstellen konnte. Kurz schloss er die Augen. Der Entführer hatte so etwas wie Wohnzimmeratmosphäre schaffen wollen. Doch das war kein Wohnzimmer, in dem die Aufnahmen entstanden. Es war eine Halle oder ein Lagerraum, groß genug, um einen leicht hohlen Klang zu erzeugen, wenn Kerstin Sommer sprach.
Falko erinnerte den Blick der Frau. Zweimal hatte sie leicht an der Kamera vorbeigesehen. Wohin? War da noch jemand, den sie ansah? Falko nahm eine weitere Puppe und stellte sie seitlich rechts hinter das Stativ der Kamera. Er überlegte kurz. Hätte dort jemand gestanden, wären ihre Augen nicht in gerader Linie, sondern nach oben gerichtet dorthin gewandert. Aber irgendwas musste dort gewesen sein. Rasch nahm er einen Miniaturstuhl, drückte die Beine der Puppe in eine sitzende Position und platzierte diese seitlich neben die Kamera. Das könnte es gewesen sein. Dort hat womöglich jemand gesessen. Sofort wanderten seine Gedanken zu den Brüdern, die so ungewöhnlich lange Zeit auf dem Parkplatz gewartet hatten. Ein Versicherungskaufmann und ein Arzt. Brüder. Eine besondere Verbindung, vielleicht der gleiche Fetisch. Er griff nach dem letzten Stück Brot, schob es sich in den Mund. »Du bist eine gute Mutter.« Das hatte der Entführer gesagt, danach hatte er Kerstin Sommer losgebunden. Eine gute Mutter. Die Worte hallten in Falkos Kopf nach. Der Täter wollte, dass die Frauen ihm bewiesen, dass sie gute Mütter waren. Plötzlich sah er eine rasche Abfolge von Bildern vor seinem inneren Auge. Die Frau in dem Grab, auf dem Bauch ihr neugeborenes Kind, noch verbunden durch die Nabelschnur. Beide in eine Decke gehüllt, die Haare sorgfältig gekämmt. Dann die Aufnahmen der unbekannten Frau, die vor laufender Kamera gewürgt worden war. Keine gute Mutter. Sie hatte nicht dem Bild entsprochen, das er
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