Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
bis Lüneburg durchgeschlagen hat, als sein Bruder tot aufgefunden wurde?«
»Dunkel«, sagte Falko.
»Die Mitarbeiterin, mit der wir damals gemeinsam nach dem Jungen gesucht haben, das ist Carola Tetzke.«
»Ja, ich erinnere mich. Sehr angenehme Frau.«
»Und sie tut meist wesentlich mehr für die Kinder und Jugendlichen, als es ihre Aufgabe wäre. Als sie in der Zeitung über den Mord an Rebecca Ganter gelesen hat, wollte sie von mir etwas über die Hintergründe erfahren, weil sie früher für Rebecca zuständig war. Deshalb hat sie mich angerufen und gefragt, ob ich etwas über den Fall weiß.«
»Und was hast du ihr erzählt?«
»Nur, dass sie tatsächlich ermordet wurde. Natürlich habe ich keine Details preisgegeben. Aber das, was ich von ihr erfahren habe, wird uns weiterbringen.«
Falko hob die Augenbrauen.
»Wir wissen nämlich jetzt, wer sie wirklich ist. Zunächst einmal ist alles, aber auch alles, was in der Presse über sie bekannt ist, von vorn bis hinten erstunken und erlogen.« Er sah auf seine Notizen.
»Sie ist, soweit stimmt ihre Geschichte, in Bremen geboren. Allerdings war ihr Geburtsname nicht Ganter, sondern Wagner – Rebecca Wagner. Ihre Mutter war Sekretärin, der Vater unbekannt. Einzelkind, soziale Kontakte eher schwierig. Bis Rebecca fünf Jahre alt war, hatte die Mutter eine feste Anstellung. Danach ging’s bergab. Sie war wohl mit der Rolle als Alleinerziehende total überfordert, scheint aber ohnehin eher ein labiler Charakter gewesen zu sein und hat sich immer öfter mit Alkohol betäubt. Damals kam dann auch das Jugendamt ins Spiel.
Carola Tetzke hat sich seinerzeit gemeinsam mit einem Kollegen um Rebecca gekümmert. Zunächst konnte sie noch bei der Mutter bleiben. Diese bekam lediglich Hilfe bei der Alltagsbewältigung. Tagesstruktur, Beaufsichtigung der Tochter, Essen machen. Solche Sachen eben. Doch die Alkoholprobleme der Mutter wurden immer größer. Irgendwann kamen zum Alkohol auch noch Drogen dazu. Bis sie schließlich auf den Strich ging, um sich das Geld für den nächsten Schuss zu besorgen. Als es Hinweise gab, dass sie auch Rebecca den Freiern anbot, war das Jugendamt zum Handeln gezwungen. Sie suchten ihr eine Pflegefamilie.«
»Hat die Mutter den Kontakt zu Rebecca aufrechterhalten?«, fragte Breitenbach.
»Fehlanzeige. Die ehemalige Jugendamtsmitarbeiterin erinnerte sich, dass sie selbst sich mehrfach mit der Mutter telefonisch in Verbindung gesetzt hat, um sie dazu zu bewegen, Rebecca zu besuchen. Auch eine Therapiemaßnahme wäre für die Mutter übernommen worden. Vergeblich. Die war so in ihrem Drogensumpf gefangen, dass sie sich für nichts mehr interessierte als für den nächsten Schuss. Irgendwann war sie einfach verschwunden. Soweit Frau Tetzke es noch sagen konnte, ist sie nicht wieder aufgetaucht.«
»Das würde schon mal Rebeccas Hass auf Mütter erklären«, sagte Falko. »Sie fühlte sich von ihr im Stich gelassen.«
»Ganz recht. Doch es geht noch weiter.« Kramer blätterte die nächste Seite um. »In ihren Pflegefamilien machte Rebecca immer wieder Ärger. Mal lief sie weg, dann griff sie jemanden an. Einmal verletzte sie ein anderes Pflegekind so schwer, dass es ins Krankenhaus gebracht werden musste.«
»Auf welche Art?«
»Sie hatte den Jungen, damals war sie acht und er etwa drei Jahre jünger, vor Wut mit dem Kopf gegen einen Schrank geschlagen. Verdacht auf Schädelbruch. Am Ende war es ein Haarriss, und der Junge ist wieder vollständig gesund geworden. Doch sie musste aus der Familie raus.«
»Es ist immer das vergleichbare Muster. Eltern kümmern sich nicht um ihre Kinder, Kinder werden auffällig und abgeschoben.« Sarah seufzte. »Was ist dann mit ihr passiert?«
»Wie du schon sagst, der Weg war quasi vorgezeichnet. Von ihrem achten bis vierzehnten Lebensjahr war sie in etwa zehn Pflegefamilien. Die genaue Zahl wusste Frau Tetzke nicht mehr. Dann kam sie in eine Art betreutes Wohnen, ein Haus, in dem ausschließlich Jugendliche mit ihren Betreuern lebten. Anfangs stabilisierte sie sich, holte ihren Schulabschluss nach, fing eine Ausbildung als Floristin an.«
»Floristin? Das ist vom Bücherschreiben aber weit entfernt«, meinte Breitenbach.
»Darauf habe ich Frau Tetzke auch angesprochen. Sie wusste, dass Rebecca immer gern geschrieben hat. Die Tetzke beschrieb sie als ausgesprochen intelligentes Mädchen, sehr wach mit einer schnellen Auffassungsgabe. Beim Schreiben hat sie sich in eine eigene, bessere Welt
Weitere Kostenlose Bücher