Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
sie in das Filmzimmer gebracht und das immer gleiche Spiel mit ihr getrieben. Sie hatte versucht, nicht direkt in die Kamera zu blicken, auch wenn ihr Kopf so fest an die Sessellehne gebunden war, dass es schmerzte. Doch sie wollte der Frau, dieser Rebecca, für die er offenbar all das tat, die Befriedigung nicht geben, ihr in die Augen zu sehen. So war ihr Blick immer wieder zu dem Foto gewandert, das er seitlich neben der Kamera befestigt hatte. Sie hörte ein leises Stöhnen von drüben. Nicole schien aufgewacht zu sein. Kerstin hörte, dass sie sich auf der schmalen Pritsche bewegte. Vielleicht versuchte sie, sich zu drehen. Kerstin war in Versuchung, sie zu fragen, wie es ihr ginge. Doch sie wagte es nicht. Sie wollte leben, ihr Kind zur Welt bringen, zu ihrem Mann Torsten zurückkehren. Sie würde alles tun, um zu überleben. Alles. Sie hatte nicht mitbekommen, wie er an ihre Zelle herangetreten war und zuckte zusammen, als sie ihn so plötzlich wahrnahm.
»Wie lange dauert es noch, bis dein Kind kommt?«
Kerstins Herz schlug schneller. Er hatte noch nie so mit ihr gesprochen. Nie! Wollte er sie freilassen? Welche Antwort wollte er hören? Was sollte sie sagen? Hing davon ihr Überleben ab? Sie war jetzt knapp in der Mitte des achten Monats. Wäre es klug, ihm das zu sagen?
»Wahrscheinlich in ein paar Tagen. Ich weiß es nicht genau.«
Er starrte sie durch die Gitterstäbe an, drehte sich dann abrupt um und ging.
Kerstin spürte, dass ihr das Blut in den Kopf geschossen war. Ihr Puls schlug heftig, und ein lautes Rauschen dröhnte in ihren Ohren. Was hatte er vor? Was tat er jetzt? Sie konnte nicht mehr auf der Pritsche liegen, hielt es kaum mehr aus. Sie trat an die Gitterstäbe heran und sah die alte, verlassene Stallgasse entlang, auf die ein schwacher Lichtschein geworfen wurde. Er war nirgendwo zu sehen. Sie musste sich zwingen, nicht nach ihm zu rufen, nicht die Beherrschung zu verlieren. Kurz schloss sie ihre Augen. Sie spürte, dass etwas geschehen würde. Sie hatte es in seinen Augen gesehen. Erwartete sie die Freiheit oder der Tod?
x x x
Falkos Handy war die ganze Zeit in Betrieb gewesen, doch Harald Kunst hatte sich nicht noch einmal gemeldet. Cornelsen wusste aus jahrzehntelanger Erfahrung, dass schnelle Ergebnisse seltener vorkamen als ein Blitzeinschlag. Doch daran gewöhnt hatte er sich bis heute nicht. Unzählige Male hatte er sich während laufender Ermittlungen selbst zur Geduld ermahnt. Wirklich genützt hatte es nichts. Wenn er merkte, dass sie der Lösung eines Falles näherkamen, spürte er das Jagdfieber in seinen Adern pulsieren. Sein Wille, dies nach außen hin nicht zu zeigen, brachte ihn auch jetzt dazu, nicht zum Hörer zu greifen und bei Kunst nachzufragen.
Cornelsen war als Erster im Präsidium, und auch wenn es Sonntag war, rechnete er damit, dass die anderen zeitnah eintreffen würden. Er bereitete die Kaffeemaschine vor, ging in sein Büro und ließ die Tür offen stehen, so dass die anderen mitbekamen, dass er bereits da war.
Rebecca Ganter. Ihr wollte sich Falko heute ausschließlich widmen. Insgeheim hoffte er, dass er im Laufe des Tages durch einen Anruf von Kunst unterbrochen und ihm mitgeteilt würde, dass er seine Arbeit einstellen konnte, weil der oder die Täter gefasst seien. Doch solange es noch nicht so weit war, gab es keinen Grund, Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen. Auf seinem Schreibtisch fand er eine Nachricht vor, dass in der Nacht ein Mann tot vor einem Lokal aufgefunden worden war. Er rief bei der Bereitschaft an, um sicherzugehen, dass sich ein anderes Team der Kripo der Angelegenheit angenommen hatte. Er erhielt die Bestätigung, dass sein Kollege Müller bereits an der Sache dran war, und legte auf.
Eine Viertelstunde später klopfte es am Türrahmen und Timo betrat das Büro. »Morgen, Falko. Und, was liegt heute an?«
»Wir nehmen uns die Unterlagen von der Ganter noch mal vor. Egal wie, wir müssen herausfinden, wo sie aufgewachsen ist. Wie waren ihre Familienverhältnisse? Was haben wir bisher übersehen?«
»In Ordnung. Soll ich das Team einteilen?«
»Mach das. Besprechung um elf Uhr im Konferenzraum, wenn sich nicht vorher etwas ergeben sollte.«
»Ist gut.« Timo ging in sein eigenes Büro hinüber.
Nach und nach trafen auch die anderen ein, wurden von Timo mit Jobs versorgt und stürzten sich in die Arbeit. Gegen neun Uhr dreißig klingelte das Telefon in Falkos Büro.
»Harald hier. Grüß dich, Falko. Die Brüder scheinen
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