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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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eine Verschnaufpause gebraucht. Dann wurden es zwei, und jetzt muß ich an schlechten Tagen auf jedem Absatz verweilen.
    Heute war ein schlechter Tag. Ich stand, stützte mich auf das Geländer und hörte mein Herz pochen und meinen Atem pfeifen. Ich sah nach oben. Auf dem Treppenabsatz vor meiner Wohnung war’s dunkel. War die Birne kaputt?
    Dann nahm ich die letzte Treppe in Angriff. Düppeler Schanzen, Gravelotte, Langemarck – wir Preußen haben schon ganz andere Höhen erstürmt. Bei den letzten Stufen holte ich den Schlüssel aus der Tasche.
    Drei Türen gehen vom Absatz vor meiner Wohnung ab. Die eine führt zu mir, die andere zum Ehepaar Weiland und die dritte auf den Speicher. Ich kehre ihr den Rücken zu, wenn ich meine Wohnungstür aufschließe.
    Er hatte in der Speichertür gestanden und auf mich gewartet. Als ich aufschloß, trat er hinter mich, legte mir die Linke auf die Schulter und drückte mir mit der Rechten eine Pistole in die Seite. »Machen Sie keine Dummheiten.«
    Ich war zu verblüfft, auch zu erschöpft und zu betrunken, als daß ich hätte ausweichen oder zuschlagen können. Vielleicht bin ich auch zu alt. Ich bin noch nie mit einer Waffe bedroht worden. Im Krieg war ich bei den Panzern, aber im Panzer wird man nicht bedroht, sondern getroffen. Als unser Panzer getroffen wurde, war ein wunderschöner Tag mit blauem Himmel, warmer Sonne und kleinen weißen Wölkchen. Bumm.
    Er blieb hinter mir, als ich im Wohnungsflur die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte. Auf dem Treppenabsatz war es düster, im fensterlosen Flur mußte es völlig dunkel werden, wenn die Tür zu und das Licht noch nicht an war. Eine Chance? Ich zögerte mit dem Licht und wartete, daß die Tür ins Schloß fiele. Aber er trat mit seinem Fuß in meine Kniekehlen, und als ich zu Boden ging, machte er die Tür zu und das Licht an. Ich rappelte mich auf, und er stieß mir wieder die Pistole in die Seite. »Gehen Sie weiter.« Im Wohnzimmer trat er mich noch mal, und diesmal ging ich nicht nur zu Boden, sondern schlug mir auch das Schienbein am kleinen Tisch an. Das tat gemein weh. Ich setzte mich auf eines meiner beiden Ledersofas und massierte mein Bein. »Aufstehen«, forderte er, aber ich dachte nicht daran. Da schoß er. Das dicke Leder meines Sofas stammt von den breiten Nacken argentinischer Büffel und hält meinen Schuhen, der Glut meiner Zigaretten und Turbos Krallen stand. Vor dem Projektil kapitulierte es. Ich nicht. Ich blieb sitzen, massierte weiter mein Bein und betrachtete meinen Gast.
    Der Schuß hatte nur plop gemacht, aber die Pistole mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer sah bösartig aus. Er trug wieder seine spiegelnde Sonnenbrille und hatte den Kragen der Jacke hochgeschlagen. Er sah die Pistole an, mich und wieder die Pistole. Unvermittelt lachte er und ließ sich auf das Sofa gegenüber fallen.
    »Herr Selb, wir hatten heute morgen Kommunikationsschwierigkeiten, Sie und ich, und daher habe ich einen Helfer mitgebracht, einen Therapeuten sozusagen.« Er sah wieder die Pistole an. Turbo kam ins Wohnzimmer, sprang neben mich aufs Sofa, machte einen Buckel, streckte die Tatzen und putzte sich. »Ich habe auch viel Zeit mitgebracht. Vielleicht hat unsere morgendliche Kommunikation einfach unter dem Zeitmangel gelitten. Sie waren so furchtbar in Eile. Sie hatten einen wichtigen Termin? Oder sind Sie ein Starrkopf? Haben wir einen angenehmen oder einen mühseligen Abend vor uns? Am Ende bricht, was starr ist. Seit Drafi Deutscher wissen wir, daß es sich mit Marmor, Stein und Eisen so verhält, und ich kann Ihnen versichern, daß dem ein allgemeines Gesetz zugrunde liegt.« Er hob die Pistole. Ich konnte nicht sehen, wohin er zielte, auf mich, über mich, neben mich, ich sah nur mein Spiegelbild in seinen Brillengläsern. Er schoß. Hinter mir, im ehemaligen Apothekerregal, in dem meine Bücher und Platten stehen, ging eine Büste von Dantes Beatrice, das Werk eines Münchener Künstlers vom Anfang dieses Jahrhunderts, zu Bruch. »Sehen Sie, so ist das mit dem Marmor. Und mit allem, was da fleucht und kreucht und lebt, ist es nicht anders. Nur daß es keine Scherben gibt.« Wieder hob er die Pistole.
    Ich rätselte nicht lange, ob er auf Turbo zielte oder ob es nur so aussah. Ich rappelte mich hoch und schlug seinen Arm zur Seite. Er schlug sofort zurück, zog mir die Pistole durchs Gesicht und stieß mich aufs Sofa. Turbo maunzte und trollte sich.
    »Versuchen Sie das nicht noch mal.« Er zischte mich

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