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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Ein ökumenisch gesonnener Presbyter hatte mich damals beauftragt, das Altarbild wieder herbeizuschaffen. Ich fand es bei dem pubertierenden Ministranten, der für Uschi Glas schwärmte. Uschi Glas und die heilige Katharina des Altarbilds waren einander in der Tat wie aus dem Gesicht geschnitten.
    Walters studierte in Darmstadt Technik, war aber in Viernheim geboren, aufgewachsen und verwurzelt. Er war Mitglied im Männergesangverein 1846, im Karnevalsverein 1915, im Schachclub 1934, im Sportschützenverein 1953 und im Fanfarenzug 1969. »Damit bin ich der geborene Lokalreporter, finden Sie nicht? Politisch bin ich nicht festgelegt. Wie ich Altmann die Info zum Lager gegeben habe, würde ich die CDU über die geplante Kollektivierung des Rhein-Neckar-Zentrums und die SPD über Kinderarbeit in der Willi Jung KG informieren. So ist das. Sie haben also meinen kleinen Artikel über Altmanns Anfrage im Kreistag gelesen und wüßten gerne mehr. Ich wüßte auch gerne mehr.« Der Raum war winzig und mit Schreibtisch, Drehstuhl und einem Stuhl für Gäste voll. Walters hatte mir den Gästestuhl und Peschkalek eine Ecke seines Schreibtischs angeboten. Durch das schmale Fenster ging der Blick auf die Rathausstraße. »Ich kann’s leider nicht öffnen. Bitte lassen Sie das Rauchen.«
    Peschkalek steckte die Pfeife weg und seufzte, als entgehe ihm echter Genuß und nicht nur ein weiterer aussichtsloser Kampf mit Tabak, Streichhölzern und Pfeifenbesteck. »Journalisten wissen nie genug. In der Hinsicht geht es uns allen gleich, ob wir gerade für den Spiegel, Paris Match, die New York Times oder das Viernheimer Tageblatt arbeiten. Mir hat Ihr kleiner Artikel gut gefallen. Er benennt das Problem präzise, ist flüssig geschrieben und überzeugt überdies durch die frische, direkte Art, in der Sie sich selbst einbringen. Außerdem merkt man Ihren soliden Fundus an Hintergrund- und Umfeldinformationen. Alle Achtung, Herr Kollege.«
    Zuerst dachte ich, Peschkalek hätte zu dick aufgetragen. Aber Walters klangen die Schmeicheleien gut im Ohr. Er lehnte sich im Drehstuhl zurück. »Freut mich, wie Sie das gesagt haben. Ich nenne es Graswurzeljournalismus und mich einen Graswurzeljournalisten. Ich bin gerne bereit, über die Viernheimer Situation für Ihr Blatt zu schreiben. Spiegel sagten Sie? Paris Match? New York Times? Über meine englischen und französischen Texte müßte allerdings jemand drübergehen.«
    »Ich will das gerne im Auge behalten. Wenn Viernheim ein Thema wird, könnte ich Sie vielleicht mit einer Spalte, einem Kasten in die Reportage einklinken. Aber ist Viernheim ein Thema? Ein Feuerschein macht noch keine Katastrophe. Wann war das eigentlich?«
    Jetzt hatte er ihn. Wir erfuhren, daß Walters am 6. Januar gegen 24 Uhr von Hüttenfeld, wo seine Freundin wohnt, nach Viernheim fuhr und vor dem Tor zum Munitionsdepot drei Polizeiwagen halten sah. Er wollte wissen, was los ist, und wurde abgewimmelt. Als er weiterfuhr, sah er über dem Munitionsdepot Feuerschein. »Das Feuer selbst habe ich nicht gesehen. Natürlich war ich neugierig geworden. Also bin ich nichts wie weiter, bei Viernheim Ost auf die Autobahn und am Kreuz Richtung Lorsch. Hinter dem Dreieck bin ich ganz langsam gefahren. Das Depot liegt ja zwischen der L 3111 und der A 6. Aber der Feuerschein war weg.«
    »Das war alles?« Peschkalek war enttäuscht und verbarg es nicht.
    »Ich habe angehalten, bin ausgestiegen und habe gerochen. Ich habe später noch mal gerochen, als ich wieder durch den Lampertheimer Forst gekommen bin. Ich mußte ja bis Lorsch auf der Autobahn bleiben, bin dort auf die Landstraße und über Hüttenfeld nach Viernheim. Aber ich konnte nichts riechen. Inzwischen weiß ich, daß Kampfgas nicht stinken muß.«
    »Kampfgas?« Peschkalek und ich fragten wie aus einem Mund.
    »Das Gerücht gibt’s schon lange. Fischbach, Hanau und Viernheim – hier sollen die Amerikaner nach dem Krieg ihre Depots angelegt haben. Manche sagen, daß hier schon die Deutschen Kampfgas gelagert und vergraben haben. Aus Fischbach soll das Zeug raus sein, heißt es, und vielleicht ist’s auch aus Viernheim raus. Oder es war überhaupt nie da. Oder aber es ist noch da, und der Lärm um den Abzug aus Fischbach hat vom Kampfgas in Viernheim abgelenkt. Jedenfalls habe ich nach dem 6. Januar angefangen, mich dafür zu interessieren.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Teufelszeug. Phosgen, Tabun, Sarin, VE , VX – haben Sie mal gelesen, was das anrichtet? Da

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