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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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Parameter gelenkt und lässt sich sogar unter sozialen Gesichtspunkten beschreiben: Bakterienkolonien praktizieren in ihrer Gruppe regelmäßig das sogenannte »Quorum Sensing« 10 und führen ganz buchstäblich Krieg, um die Oberhand über Territorien und Ressourcen zu behalten. Dies tun sie sogar innerhalb unseres eigenen Körpers, wo sie im Rachen oder im Darm um die Vorherrschaft in den jeweiligen Revieren kämpfen. Als ein einfaches Nervensystem auf der Bildfläche erschienen war, waren soziale Verhaltensweisen noch deutlicher zu erkennen. Ein Beispiel ist der Fadenwurm – ein profaner Name für eine wissenschaftlich packende Wurmart, die über ziemlich verwickelte soziale Verhaltensweisen verfügt.
    Das Gehirn von Fadenwürmern wie Caenorhabditis elegans besteht nur aus 302 Neuronen, die in einer Kette von Ganglien organisiert sind – nichts, worauf man besonders stolz sein könnte. Wie alle anderen Lebewesen, so müssen sich auch Fadenwürmer ernähren, um zu überleben. Je nachdem, wie viel oder wie wenig Nahrung vorhanden ist und welche Gefahren in der Umwelt drohen, drängen sie mehr oder weniger im Rudel an die Futtertröge. Wenn ausreichend Nahrung zur Verfügung steht und in der Umwelt alles ruhig ist, fressen sie allein, ist die Nahrung aber knapp oder entdecken sie in der Umwelt eine Bedrohung (zum Beispiel einen bestimmten Geruch), tun sie sich zu Gruppen zusammen. Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass sie eigentlich nicht wissen, was sie tun, und erst recht wissen sie nicht, warum. Aber sie verhalten sich so und nicht anders, weil sich ihr äußerst einfaches Gehirn, das keinen nennenswerten Geist und erst recht kein richtiges Bewusstsein enthält, anhand der Signale aus der Umwelt für das eine oder das andere Verhalten entscheidet.
    Nun stellen wir uns vor, ich hätte die Verhältnisse bei C. elegans abstrakt beschrieben und die Voraussetzungen sowie die Verhaltensweisen skizziert, ohne aber zu erklären, dass es sich um Würmer handelt. Weiter stellen wir uns vor, ich hätte Sie darum gebeten, sich in die Lage eines Soziologen zu versetzen und die Situation zu kommentieren. Vermutlich hätten Sie Hinweise auf Kooperation zwischen den Individuen entdeckt und vielleicht sogar altruistische Besorgnis diagnostiziert. Sie hätten vielleicht gedacht, ich spreche von komplexen Lebewesen, möglicherweise sogar von Frühmenschen. Als ich zum ersten Mal Cornelia Bargmanns Beschreibung der einschlägigen Befunde las, musste ich an Gewerkschaften oder die Sicherheit der großen Zahl denken. 11 In Wirklichkeit aber ist C. elegans nur ein Wurm.
    Ideale Homöostasezustände sind der wertvollste Besitz eines Lebewesens; eine weitere Folgerung aus dieser Tatsache lautet: Der grundlegende Vorteil des Bewusstseins ergibt sich – auf allen Ebenen dieses Phänomens – daraus, dass sich die Lebenssteuerung unter immer komplexeren Umweltverhältnissen verbessert. 12
    Das Überleben in neuen ökologischen Nischen wurde durch Gehirne begünstigt, die so komplex waren, dass sie einen Geist hervorbringen konnten; Grundlage dieser Entwicklung ist, wie ich in Teil II genauer erklären werde, das Erstellen neuronaler Landkarten und Bilder. Nachdem sich der Geist entwickelt hatte, sorgte er schon zu einer Zeit, als er noch nicht von Bewusstsein durchtränkt war, für die Optimierung der automatischen Lebenssteuerung. Einem Gehirn, das Bilder hervorbringt, stehen mehr Detailinformationen über die Verhältnisse innerhalb und außerhalb des Organismus zur Verfügung, und damit kann es auch eine differenziertere, effizientere Reaktion erzeugen als ein Gehirn ohne Geist. Könnte aber der Geist nichtmenschlicher biologischer Arten ein Bewusstsein erlangen, bekäme die automatische Steuerung einen machtvollen Verbündeten, ein Mittel, um die Bürde des Überlebens auf das entstehende Selbst zu konzentrieren, das nun für den kämpfenden Organismus einsteht. Noch machtvoller ist dieser Verbündete natürlich bei den Menschen geworden, deren Bewusstsein sich in Verbindung mit Gedächtnis und Vernunft entwickelte, so dass abstrakte Planung und absichtsvolles Denken möglich wurden.
    Erstaunlicherweise existiert die selbstbezogene Lebenssteuerung immer gemeinsam mit dem automatischen Regulationsapparat, den jedes bewusste Lebewesen aus seiner Evolutionsvergangenheit übernommen hat. Das gilt ganz besonders auch für den Menschen. Die meisten Regulationsvorgänge in unserem Inneren laufen unbewusst ab, und das ist auch gut

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