Selbstmord der Engel
nickte er und fragte: »Willst du mich nicht in die Wohnung lassen, John Sinclair?« Seine Stimme klang so hell, rein und klar.
Ich nickte heftig. »Natürlich. Ich bin nur überrascht. Ich hatte mit dir nicht gerechnet.«
»Ach. Hast du das wirklich nicht?«
»Doch – gehofft.«
Ich drehte mich um und gab den Weg frei. In die Wohnung hineinzuführen brauchte ich ihn nicht, denn Raniel kannte sich aus. Trotzdem ging ich vor und fing Glenda’s Blick auf.
»Es ist Raniel«, flüsterte ich.
Sie erschrak leicht, dann aber drehte sie den Kopf. Dabei blieb sie in einer gespannten Haltung sitzen, und ich sah den leichten Glanz in ihren Augen, als Raniel das Zimmer betrat.
Es war jemand, bei dem Frauen zwei und mehrere Male hinschauten, obwohl er nicht eben gekleidet war wie ein Popstar. Der lange dunkle Mantel, das weiße Rüschenhemd und dazu das dunkle Haar, das er nach hinten gekämmt hatte. Nicht glatt und glänzend wie ein Latino Lover, nein, bei ihm war die Dichte nicht durch irgendwelche Kunstmittel glatt gemacht worden. Ein männliches Gesicht mit dunklen Augen, ein weicher Mund, darüber die gerade Nase, das etwas hart wirkende Kinn – so zeigte er sich dem Betrachter, der auch nicht den leichten Schatten übersah, den dieses Gesicht bedeckte und ihm einen düsteren Ausdruck verlieh.
Raniel war Mensch und Engel zugleich und gehörte zu denjenigen, die sich in beiden Welten bewegten. Er war einer, der aufpasste, der sich als gerecht ansah, der auch über Engel wachte und dafür sorgen wollte, dass sie den korrekten Weg gingen und sich nicht durch die Netze des Bösen einfangen ließen. Was er als gerecht ansah, das musste nicht unbedingt etwas mit unserer irdischen Gerechtigkeit zu tun haben. Die beiden Ansichten standen sich oft genug im Weg, aber das machte Raniel nichts aus. Wenn es sein musste, ging er über Leichen, und so kam es, dass wir nicht immer perfekt übereinstimmten.
Der Gerechte hatte meine Wohnung betreten, und augenblicklich breitete sich eine andere Atmosphäre aus. Es gibt ja Menschen, die auch beim größten Partygetümmel nicht zu übersehen sind, und das war bei Raniel der Fall. Ich hatte den Eindruck, plötzlich nebensächlich zu sein, und wahrscheinlich erging es Glenda ebenso.
Sie stand sogar auf. Ihr Gesicht wurde von einer lichten Röte überzogen. Sie lächelte, aber das Lächeln wirkte irgendwie verkrampft, und auch der Blick war unsicher.
Beide sahen sich zum ersten Mal, aber Raniel wusste bereits Bescheid.
»Du bist Glenda.«
»Ja.«
Er reichte ihr die Hand.
Glenda war noch immer fasziniert und konnte ihren Blick nicht von seinem Gesicht lösen.
»Ich freue mich...«
»Ja, ich auch.« Sie ließ seine Hand los, aber sprechen konnte sie nicht. Mit einer sehr langsamen Bewegung ließ sie sich zurück in den Sessel sinken, und ihr Blick blieb diesmal nicht auf dem Gesicht haften, sondern auf der Waffe, die er bei sich trug.
Es war ein Schwert. Jedoch ein ungewöhnliches. Ein Lichtschwert, ein gläsernes Schwert, das jedoch stärker war als die aus Metall bestehenden Waffen.
Ich hatte ihn dabei des Öfteren in Aktion erlebt und wusste, wie sehr er unter seinen Feinden aufräumen konnte.
Raniel sagte noch nichts. Er ging zum Fenster, schaute hinaus und schien sich erkundigen zu wollen, ob die Luft rein war. Es war der Fall. Er schloss das Fenster nicht und drehte sich wieder um.
Sein Blick war auf mich gerichtet.
Ich hielt ihm stand.
Sekundenlang stand das Schweigen zwischen uns, und nur Glenda’s Atemzüge waren zu hören.
Schließlich hörten wir beide Raniel sprechen, und mit dem Satz traf er den Nagel auf den Kopf.
»Er ist wieder da!«
»Belial?«
»Ja.«
»Und was tust du? Weshalb bist du gekommen?«
»Um euch zu helfen.«
Ich lächelte. »Das hatte ich mir gedacht. Das hatte ich mir sogar gewünscht.«
»Er ist dabei, die Ungerechtigkeit zu verbreiten, John. Er will, dass sich die Engel selbst umbringen, und ich weiß, dass seine Kräfte groß genug sind, um dies erreichen zu können. Er ist der Engel der Lügen. Er verspricht ihnen das Paradies und holt sie doch hinein in die Hölle. In Luzifer’s finsterstes Reich, in die Tiefen der Verdammnis, aus der er ebenfalls stammt und in die er nicht wieder hineingestoßen werden konnte. Die Engel schaffen es nicht, seine Lügen zu durchschauen. Sie sind einfach von ihm überfahren worden, doch einige haben gemerkt, dass sie angelogen wurden. Sie reagierten auch. Ihre Selbstmorde waren verzweifelte
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