Selbstmord der Engel
auch sie war damit ausgerüstet, und deshalb gehörte sie irgendwie zu ihm.
Sie blieben auf der Wiese stehen. Belial drehte sie so, dass sie ihn anschauen konnte. Er legte seine Hände mit den langen Fingern auf ihre Schultern. Dann tauchte sein Blick in ihre Augen, als wollte er bis in die Tiefen ihrer Seele schauen.
»Du bist etwas anderes, Carlotta. Du gehörst zu uns. Das habe ich gemerkt. Aber nicht nur ich. Auch der Engel, der sich umbrachte. Er suchte bei dir Unterstützung. Aber er hat nicht mit meiner Stärke gerechnet. Ich lasse mich nicht in meinen Plänen stören. Ich hätte dich auch töten können, aber ich mag dich, und deshalb werde ich dir nicht die Flügel vom Körper reißen und dich vernichten.«
Sie hörte ihm zu. Sie lauschte dem Klang der fremden Stimme, die zudem noch fremder klang durch die beiden unterschiedlichen Frequenzen. Carlotta war fasziniert. Dass sie den Engel der Lügen vor sich hatte, daran dachte sie nicht.
Sie war nicht geschockt, und es gelang ihr auch, eine Frage zu stellen.
»Wohin willst du mich bringen?«
Belial legte den Kopf schief. »Kennst du das Paradies?«, flüsterte er ihr zu.
Carlotta war ehrlich. »Nein, ich kenne es nicht. Ich habe davon gehört. Man hat darüber gesprochen. Das Paradies soll so wunderschön sein.«
»Darin gibt es keinen Streit und keinen Hader«, sagte Belial. »Alle, die dort leben, freuen sich des Lebens. Sie existieren auf einer anderen Stufe weiter, und genau dort leben auch die Engel. Sie sind etwas Wunderbares. Du gehörst zu ihnen. Sie werden sich freuen, wenn sie dich sehen. Sie sind gespannt auf dich, und ich werde derjenige sein, der dir den Weg ins Paradies ebnet. Ich will, dass du einen Blick hineinwirfst und die Engel siehst, was sonst keinem Menschen erlaubt ist. Oder nur ganz wenigen. Dich aber habe ich auserwählt.«
»Ja, darauf freue ich mich.«
»Dann werden wir uns auf den Weg machen«, erklärte Belial und fasste Carlotta an der rechten Hand an.
»Fliegen?«, fragte sie.
»Ja.«
Die Augen des Vogelmädchens leuchteten auf. Der Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sie spürte plötzlich eine Kraft in sich, die sie einfach entfalten musste.
Zugleich breiteten die beiden unterschiedlichen Wesen ihre Flügel aus. Sie liefen noch ein paar Schritte über die Rasenfläche hinweg, dann hoben sie ab.
Aus dem Mund des Vogelmädchens löste sich ein Jubelruf. Egal, was passierte, es war für Carlotta noch immer das Größte, wenn sie ihre Kräfte einsetzen konnte und in die Luft stieg.
Das passierte auch hier. Nur wurde sie von der Hand des Lügen-Engels gehalten. Auch seine mächtigen Flügel bewegten sich, und Carlotta flog leicht unter ihm, damit sie nicht von den Schwingen der Gestalt getroffen wurde.
Die Welt stand ihnen offen. Aber es war eine andere Welt als die der Menschen.
Sie schwebten hinein in die Dunkelheit des Himmels, der so finster nicht war. Es sah aus, als hielten sich in seinem Grau noch letzte Lichtreste versteckt, die fahl hindurchschimmerten.
Der Wind spielte mit Carlotta’s Kleidung. Er presste sich gegen ihr Gesicht. Er fuhr durch die Federn der Flügel hindurch, als wollte er sie reinigen.
Die Welt und das normale Leben blieben unter ihnen zurück. Jetzt gab es nur noch die Weite, die sie gefangen hielt. Der Himmel – unendlich, ohne Grenzen. Lichter waren verschwunden, und hoch über dem Boden drehte sich Belial.
Das Vogelmädchen musste die Bewegung mitmachen.
Wieder schaute sie Belial ins Gesicht.
»Wir sind an der Grenze«, erklärte er. »Ich möchte dir nur sagen, dass wir sie jetzt überschreiten.«
Carlotta nickte. Sie wollte auch etwas sagen, aber es klappte nicht mehr.
Belial’s Augen veränderten sich. Scharfes Licht funkelte darin. Es sah gelb aus. Es lösten sich Strahlen, die sie umgaben, und dann verschwand die Umgebung vor ihren Augen. Carlotta merkte den Druck an verschiedenen Stellen ihres Körpers. Die Kräfte zerrten daran. Sie fühlte sich weggetragen, hinausgeschleudert und gleichzeitig gedreht.
Dass sie eine Dimensionsgrenze überflog, wurde ihr nicht bewusst. Sie konzentrierte sich nur darauf, dort hinzugelangen, wo sich die Engel befanden...
***
Es gab keinen Zweifel, vor mir stand Raniel, der Gerechte. Derjenige, der mich schon einmal auf eine ungewöhnliche Art und Weise besucht hatte, aber hier hatte er den normalen Weg genommen und füllte jetzt mit seiner Gestalt das Türrechteck aus.
Ich war so überrascht, dass ich nichts sagen konnte. Deshalb
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