Selbstmord der Engel
ein Engel nach unten, um wenig später mit einem wütenden Schrei wieder in die Höhe zu fahren, als hätte er auf dem Boden einen schrecklichen Feind gesehen.
Wer in dieser Welt ein Feind war, der war mein Freund. Davon ging ich einfach aus.
Sie hätten mich schon längst sehen müssen, aber es passierte nichts. Sie zogen weiterhin ihre Kreise, und so konnte ich mich auf leisen Sohlen voranbewegen.
Ich behielt dabei auch die Umgebung im Blick, denn Belial und Raniel hatte ich nicht vergessen. Von beiden sah ich nichts. Perfekt wäre es gewesen, wenn es Raniel gelang, dem Engel der Lügen den Garaus zu machen. Das würde erst mal ein Traum bleiben.
Wenn es so leicht gewesen wäre, hätte er dies schon längst in die Tat umgesetzt.
Es war leicht, an das Ziel heranzukommen. Ich konnte die Häuser als Deckungen nutzen und schlängelte mich zwischen ihnen durch. Nichts stand mir im Weg, und so wurde ich mutiger und lief schneller. Auf dem Boden verteilten sich Steine. Erst jetzt fiel mir auf, dass es hier keine Vegetation gab. Es war eine Welt, in der ich nicht tot über dem Zaun hängen wollte, aber was konnte man von Belial schon anderes erwarten.
Schreie stoppten mich!
Ich erstarrte. Ich versuchte, die Schreie zu deuten. Angst hatte ich nicht aus ihnen hervorgehört. Eher Triumph.
Plötzlich zog sich mein Herz zusammen. Es war schrecklich, was ich zu sehen bekam. Belial tauchte auf. Ich hatte ihn nicht sofort gesehen, weil ihn eine Hütte verdeckt hatte. Jetzt flog diese verfluchte Gestalt in die Höhe. Leider war sie nicht allein. Wie ein Raubtier hatte sie sich ihre Beute geholt und eine Hand in den Nacken einer Person gekrallt, die ich gut kannte.
Es war das Vogelmädchen Carlotta!
***
Carlotta hatte gekämpft. Sie hatte sich gewehrt und war den Attacken der angreifenden Engel immer wieder entgangen. Aber sie hatte zugleich einen Fehler begangen und sich eine schlechte Deckung ausgesucht, die eigentlich keine war. Sie klemmte in einem Spalt zwischen zwei Häusern, und dort war es besonders eng.
Natürlich hatten die Engel sie entdeckt und griffen an. Sie wussten, dass Carlotta unbewaffnet war und sich mit den bloßen Händen verteidigen musste.
Anfangs klappte es recht gut, aber die Angreifer gaben nicht auf. Carlotta stand allein der Übermacht gegenüber, und sie merkte, dass ihre Kräfte nicht unendlich waren. Während die Engel sich abwechselten, stand sie allein. Immer wieder war sie gezwungen, nach ihnen zu schlagen, und wenn sie versuchte, zurückzukriechen, um das Ende der Lücke zu erreichen, tauchten sie in ihrem Rücken auf.
Sie glitten hinein in die Lücke zwischen den Häusern wie graue Gespenster aus der Unterwelt, aber noch schaffte Carlotta es, sich zu wehren. Sie achtete besonders auf ihre Schwingen, denn sie sollten nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Mit verletzten Flügeln zu fliegen, war fast unmöglich.
Dann kamen sie zu dritt.
Von vorn und von hinten.
Carlotta sah ein, dass sie in der Falle steckte. Die Hände, die sie bereits zur Abwehr erhoben hatte, sanken nach unten. Ein Zeichen, dass sie sich in ihr Schicksal ergab.
Das Vogelmädchen rechnete damit, gepackt und hochgehoben zu werden, aber die sechs Gestalten hatten etwas anderes vor. Sie drängten Carlotta in die Enge, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte, und vier Hände hielten dabei ihre Flügel fest.
Carlotta bewegte sich nicht mehr. Hätte sie es getan, wären eventuell ihre Flügel in Mitleidenschaft gezogen worden, und dieses Risiko wollte sie nicht eingehen.
Sie suchte nach einem Ausweg, und sie musste sich eingestehen, dass nichts mehr zu machen war. In dieser Welt war sie verloren. Da hatten sich alle Kräfte gegen sie verschworen. Irgendwas musste passieren. Es konnte nicht sein, dass sie einfach nur in dieser Enge festgehalten wurde. Schließlich gab es noch Belial, der diese Welt beherrschte.
Von seinen Kreaturen konnte Carlotta keine Hilfe erwarten. Sie waren ihm voll und ganz ergeben. Sie gingen für ihn in den Tod.
Das Gefühl der Enge zwischen den beiden Wänden sorgte bei ihr nicht nur für Angst, sondern auch für Hass. Er galt den verdammten Engeln, die mit denen, die sie sich erhoffte, so gar nichts zu tun hatten. Sie waren Verlorene. Gestalten, die einem Engelfänger auf den Leim gekrochen waren und die zuvor nicht gewusst hatten, wohin.
Belial hatte ihnen eine Heimat gegeben, doch auch die war für sie schlimm, sodass zwei von ihnen durch Selbstmord auf sich aufmerksam gemacht
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