Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
Schwester hatte eine kleine Babydecke mit, ihre Schnuffeldecke, die zog sie über unsere Köpfe. Trotzdem konnte ich noch etwas sehen, ich sah den blonden Amerikaner, der auf uns schoss. Er traf uns nicht, niemanden aus unserer Gruppe. Dennoch sind das Momente, die man im Leben nie vergisst.
An anderes kann ich mich heute nicht mehr gut erinnern – vielleicht habe ich es verdrängt? Wie konnten wir überleben mit so wenig Essen und Trinken? Wo haben wir geschlafen? Konnten wir überhaupt schlafen – hatten wir nicht ständig furchtbare Angst? Oder haben wir einander Kraft und Mut verliehen? Hat uns der Gedanke an unser Ziel – die Mutter, ein Zuhause – am Leben erhalten und den Weg gewiesen?
Als Ursula und ich nach acht Tagen unser Ziel erreichten, bekam meine Mutter zwei stark veränderte Töchter zurück – mager und schmutzig, das war das Äußere. Innerlich waren wir beide sehr gereift. Ich hatte in der Kinderlandverschickung meine Verträumtheit und Langsamkeit verloren, war – gezwungenermaßen – willensstark und selbstbewusst geworden. Ich hatte gelernt, allein zurechtzukommen und mich durchzusetzen.
Gleichheit und Andersartigkeit
Wir froren erbärmlich, waren ängstlich und erschöpft. Hätten wir gestanden, statt auf dem Boden des Güterwaggons zu sitzen, wir wären vor Müdigkeit umgefallen. So ging es zehn Tage lang auf dem Weg von Bayern nach Hamburg, im März 1946. Was erwartete uns im Norden? Wo konnten wir unterkommen, wie würden wir leben? Wir wussten es nicht. Dennoch wollten wir zurück dorthin, wo einmal unser Zuhause gewesen war, wollten wieder zur Schule gehen, wir sehnten uns nach Alltag, nach Normalität.
In der bayerischen Kreisstadt Parsberg hatte die amerikanische Militärregierung unsere Mutter als Dolmetscherin eingesetzt. Sie konnte gut Englisch – mit dem amerikanischen Englisch der Soldaten hatte sie allerdings ihre Schwierigkeiten, wie sie Ursula und mir gestand: »Ich ahne immer nur, was sie sagen. Hoffentlich kommt es mit meinen Übersetzungen ungefähr hin.« Die Amerikaner beschlagnahmten für ihre Mitarbeiter Wohnungen der Zivilbevölkerung, eine davon stellten sie uns zur Verfügung – entsprechend ablehnend reagierten die vorherigen Bewohner, als wir zwei Zimmer ihrer Wohnung übernahmen. Trotzdem waren wir drei froh, ein robustes Dach über dem Kopf zu haben.
Recht schnell organisierte unsere Mutter einen Nebenjob. Viele Bauernsöhne aus dem Umland waren in Kriegsgefangenschaft, auf den Höfen ihrer Eltern wurde ihre Arbeitskraft zur Erntezeit 1945 dringend benötigt. Deshalb stellten die Eltern für ihre Söhne Entlassungsanträge an die amerikanische Militärregierung. Man musste die Anträge auf Englisch einreichen, meine Mutter übersetzte sie für die Bauern. Sie eröffnete ein richtiges kleines Büro und ließ sich in Lebensmitteln bezahlen. Mit Geld konnte man wenig bewirken, es gab ja nichts zu kaufen. Und die oberpfälzischen Bauern hatten ohnehin kaum Geld.
Dank des Geschäftssinns und Fleißes unserer Mutter ging es uns vergleichsweise gut in den ersten Nachkriegsmonaten. Aber nach einem knappen Jahr machten wir uns auf den Heimweg. In Parsberg konnten Ursula und ich nicht einmal zur Schule gehen, weil die Oberschule geschlossen worden war. Mit Hilfe der Militärregierung bekamen wir Plätze in einem Güterwagen. Wir packten das bisschen Hausrat und die Kleidung ein, die wir hatten, dazu eine ganze Menge landwirtschaftliche Produkte zur Verpflegung und als Zahlungsmittel. Ständig blieb der Güterzug irgendwo stehen, musste warten, wurde dann wieder angeschoben, die Fahrt zog sich scheinbar ewig hin. Den Boden unseres Waggons hatten wir mit Stroh ausgelegt, aber es war schrecklich kalt, unbequem und laut. Im Waggon gab es einen kleinen Kanonenofen, aus dem immer wieder Feuerung herausfiel, in das Stroh hinein. Irgendwie haben wir es überstanden. Nach zehn Tagen erreichten wir Hamburg, hatten keine Wohnung, nichts. Die Stadt lag in Trümmern – und wir mittendrin. Es war abenteuerlich, erschreckend und ängstigend.
Zunächst kamen wir bei Bekannten in Hamburg-Borgfelde unter; sie quartierten uns in der Garage ein und nahmen alle Vorräte, die wir mitgebracht hatten, an sich. Sie bestahlen uns nach Strich und Faden, nach kurzer Zeit besaßen wir nichts mehr. Die Menschen in Hamburg litten furchtbaren Hunger, aus heutiger Sicht ist es verständlich, dass vielen das Hemd näher war als die Jacke. Aber damals hatten wir kein Verständnis, wir hatten
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