Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
Hunger. Es war eine sehr unerfreuliche Zeit für uns in der Alfredstraße in Borgfelde, wir waren heilfroh, als wir dort wieder ausziehen konnten. Gleich nach unserer Ankunft in Hamburg hatte unsere Mutter bei der Schulbehörde vorgesprochen und um Arbeit gebeten. Wenige Monate später bekam sie eine Stelle als Lehrerin, außerdem teilte uns das Wohnungsamt zwei Zimmer in Billstedt zu, einem reinen Arbeiterviertel. Für unsere Mutter, eine ehemals »höhere Tochter«, war Billstedt eine Katastrophe. »O Gott«, sagte sie, »wenn mir das früher jemand gesagt hätte, dass wir einmal hier landen!«
Knapp zwei Jahre später bekamen wir eine Dienstwohnung in der Schule, in der meine Mutter arbeitete, zugewiesen. Natürlich bewohnten wir sie nicht allein, sondern zusammen mit einer zweiten Lehrerfamilie. Jede Familie hatte zwei kleine Zimmer, die Toilette und die Küche teilten wir uns, ein Badezimmer gab es nicht. Die andere Familie war wenig angenehm, es war alles sehr beengt, die Umstellung enorm – unsere frühere Hamburger Wohnung hatte fünf Zimmer gehabt und einen zehn Meter langen Flur. Enger Wohnraum bedeutet nicht nur das Fehlen von Luxus. Man kommt in beengten Verhältnissen auch schlechter zu sich, findet schwerer Ruhe.
Die Wohnsituation störte uns aber weniger, als man meinen könnte, denn wir waren kaum zu Hause, hatten genug draußen zu tun. Und schlimmer, viel schlimmer als die Enge waren der Hunger und die Kälte. Es gab fast nichts zu essen, kein Brot, nichts, was den Hunger einer Dreizehnjährigen hätte stillen können. Manchmal wurden uns Kohlköpfe zugeteilt, dann zogen meine Schwester und ich mit je einem Viertel rohen Kohlkopf in die Schule. Es war das Einzige, was wir den Tag über zu essen bekamen. Das alles ist nun an die siebzig Jahre her, vieles habe ich vergessen. Aber das Hungergefühl, diese schmerzhafte Schwäche im Körper, ist mir bis heute präsent. So verzweifelt hungrig ins Bett zu gehen, dass man nächtelang keinen Schlaf fand, war eine Quälerei. Sie raubte mir die Lebensfreude.
Später gab es die Schulspeisung, aber das war auch nur eine Mahlzeit am Tag. Und dann der harte Winter 1946/47 – die Menschen starben wie die Fliegen, auch bei uns zu Hause ging es ums nackte Überleben. Ursel und ich zogen in den Wald, um Feuerholz zu besorgen. Wir schlugen Bäume, zersägten die Stämme, damit sie auf unseren Bollerwagen passten, zogen unsere Beute viele Kilometer weit bis nach Hause, hackten sie klein und schleppten sie in die Wohnung. Und das war noch eine der leichteren Aufgaben.
Weitaus unangenehmer gestaltete sich die Kohlebeschaffung. Dazu liefen Ursula und ich wiederum kilometerweit bis an den Stadtrand zu einem großen Gleisgelände, und zwar nachts. Dann trafen die Güterzüge aus dem Ruhrgebiet ein mit Koks für die Gaswerke. Kinder kletterten auf die Züge und warfen Koks hinunter – unten standen Erwachsene und sammelten die Kohle ein. Zu denen, die einsammelten, gehörte meine Schwester. Zu denen, die kletterten, gehörte ich. Es war sehr schwierig und bedrohlich, denn die Züge fuhren unter niedrigen Brücken hindurch, sodass man sich flink ducken musste. Oben auf den Brücken standen englische Soldaten mit Gewehren. Ihre Aufgabe war es, die Kohletransporte zu bewachen. Zum Glück waren sie menschlich genug, um nicht auf uns Kinder zu schießen. Aber wir konnten uns dessen ja nie sicher sein. Die Soldaten jagten uns gehörige Furcht ein.
Wir hatten keine andere Wahl. Es gab keine Zuteilung, keine Möglichkeit, an Kohle zu kommen, außer sie zu stehlen. Die effektivste Methode war zugleich die gefährlichste: Vor den Toren der Stadt gab es ein sogenanntes Rieselfeld. Das Hafenbecken musste damals ständig ausgebaggert werden, damit die Elbe nicht versandete. Auf dem Rieselfeld spien die Bagger den Schlick aus, den sie aus der Fahrrinne gehoben hatten. Darin fanden sich Kohlestücke, denn die Kohle kam nicht nur auf Gleisen, sondern auch auf dem Wasserweg in die Stadt. Wurde sie gelöscht, fiel gelegentlich etwas über Bord. So zogen Ursel und ich morgens um vier Uhr mit unserem Bollerwagen los zum Sauger, wie man jene speziellen Bagger nannte, und fischten Kohlestücke aus dem Schlick. Wir trafen andere Menschen dort, die mit uns sammelten, aber kaum andere Kinder. Der Sauger spie seine Fracht in einem riesigen Schwall heraus. Immer bestand die Gefahr, von der Wucht jenes Schwalls umgeworfen und unter dem Schlamm begraben zu werden. Ich war ein fadendünnes
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