Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
Mädchen, und ich sah kräftige Männer schwanken in dem Schlick. Oft träumte ich nachts, dass der Schlamm mich mitriss. Doch tagsüber hatte ich nicht viel Zeit, mich mit meiner Angst zu beschäftigen, und es gab ja keine Alternative. Die Kälte hätte uns sonst umgebracht.
Unsere Mutter mühte sich nach Kräften, für uns Mädchen zu sorgen; ihre Kraft reichte allerdings nicht, um nachts Kohle an den Gleisen zu sammeln, Bäume im Wald zu schlagen oder Feuerung aus dem Hafenschlick zu fischen. Sie war eine willensstarke, intelligente und gebildete Frau. Patent in Bezug auf die Bewältigung praktischer Aufgaben im Nachkriegs-Überlebenskampf war sie jedoch nicht. Ursel und ich erkannten das instinktiv und übernahmen deshalb diese Aufgaben selbst und allein. Das Dreierteam aus Mutter und Töchtern funktionierte, zu Hause waren die Aufgaben nach Begabung verteilt, wir ergänzten einander: Ursula kochte gern und gut. Die Mutter war eine geschickte Näherin, aus Lumpen zauberte sie wärmende und ansehnliche Kleidung, außerdem dekorierte sie die Wohnung – mit einfachsten Mitteln sorgte sie für Behaglichkeit. Ich war für alles Technische zuständig, zum Beispiel reparierte ich Lampen.
Nach dem Kokssammeln zogen wir Schwestern morgens mit unserem Bollerwagen nach Hause, wuschen uns schnell mit kaltem Wasser – und dann ab zur Schule. Nach der Schule haben wir Steine aus den Trümmern der Stadt behauen, damit sie als Baumaterial wiederverwendet werden konnten. Man spricht bis heute oft von den Trümmerfrauen, aber auch viele Trümmerkinder leisteten harte Arbeit. Bald gab ich zudem anderen Schülern Nachhilfeunterricht, und zwar täglich. Ab dem fünfzehnten Lebensjahr habe ich jeden Pfennig selbst verdient, den ich für Persönliches wie Kleidung, Bücher oder für Eintrittskarten in die Oper brauchte. Die Oper habe ich schon immer geliebt, als junges Mädchen ganz besonders. Eine echte Leidenschaft.
Auch Ursel gab Nachhilfestunden, ebenso unsere Mutter, die fast jeden Tag von früh bis spät arbeitete. Morgens unterrichtete sie in der Schule, nachmittags gab sie Privatstunden, und bald begann sie, abends Politikkurse für Erwachsene an der Volkshochschule zu geben. An der Haupt– und Realschule lehrte sie Englisch, Deutsch, Geschichte, Erdkunde und Staatsbürgerkunde. Das war das, was sie interessierte, und sie wollte ihr Wissen gern auch Erwachsenen vermitteln. Dabei spielte selbstverständlich auch das zusätzliche Geld eine wichtige Rolle. Ihr Lehrerinnengehalt war gering.
Die Nachkriegsjahre waren die prägendste Zeit meines Lebens – der Hunger, die Kälte, der Überlebenskampf, die Trümmer, der Wiederaufbau, die allmähliche Rückkehr der Normalität, der Beginn meines Arbeitslebens, meine Entdeckung der Opernwelt. Und ich mitten in der Pubertät. Die Erfahrungen jener Jahre lehrten mich unter anderem, dass man im Leben nur einem Menschen wirklich vertrauen kann – und das ist man selbst. Obgleich diese Erkenntnis ein wenig bitter klingen mag, beinhaltet sie viel Gutes: Ich lernte, Eigenverantwortung zu übernehmen, und ich erlangte die Gewissheit, dass ich im Ernstfall ausreichend Kraft aufbringe, um für mich selbst zu sorgen. Wir jungen Menschen wurden, wie man so sagt, »fürs Leben gestählt«.
Rückblickend sehe ich auch, dass ich damals erfuhr: Materielle Einschränkungen, und seien sie noch so gravierend, machen das Leben nicht weniger lebenswert. Manche Menschen meiner Generation neigen nun dazu, die harten Erfahrungen als etwas Unvergleichliches herauszustellen und Menschen jüngerer Generationen vorzuhalten: »Ihr habt es viel zu gut!« Das sehe ich anders. Ich wünsche niemandem die lebensbedrohlichen Erfahrungen, die wir machten. Aber auch die heutige Jugend hat ihre Probleme – jede Generation hat eigene Herausforderungen. Und da jeder Mensch sein Leben subjektiv erlebt, denkt ein Jugendlicher heute natürlich nicht: »Ein Glück, dass mein Problem nur darin besteht, arbeitslos zu sein. Früher gab es viel Schlimmeres!« Nein, ich halte es nicht für erforderlich, in der Jugend existenzielle Not zu erleben, um reifen zu können. Die Hauptsache ist meinem Empfinden nach heute wie damals, dass junge Menschen ihre Fähigkeiten erkennen, die Herausforderungen annehmen, dass sie ihre Kraft nutzen, um voranzukommen und Probleme zu lösen – und nicht um Unsinn anzustellen.
Wenn ich an die Nachkriegszeit denke, sehe ich kaum Männer vor meinem inneren Auge – das war eine weitere
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