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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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darauf, dass er es nicht hinbekommen hatte. Aber sein Verdruss hielt nicht lange an. Dann begann er wieder von vorn, baute und probierte stundenlang. Er brauchte dafür keinen Menschen.
    In die Türen und Schubladen unseres Wohnzimmerschrankes waren Schlösser eingelassen, in denen kleine Schlüsselchen steckten. Jene Schlüssel stellte Rolf quer, sodass sich horizontale Flächen ergaben. Und auf die winzigen Flächen setzte er gigantische Lego-Türme. Jeder wusste: Irgendwann fällt der Turm herunter. Und sehr bald wusste man auch: Jetzt gibt es zunächst ein wildes Gebrüll, danach fängt Rolf auf ein Neues an mit seiner irrealen Konstruktion. Mein Mann fragte manchmal: »Verstehst du das noch?« Ich erwiderte: »Darauf kommt es doch gar nicht an.« Was ich verstand, war, dass Rolf sich die schwierigste Aufgabe aussuchte, die er finden konnte, und sie immer wieder zu lösen versuchte. Wer so etwas beobachtet, weiß, dass er ein besonderes Kind hat. Ein Kind, dem er Raum lassen muss. Man darf auf keinen Fall sagen: »Nun komm doch bloß weg von dem blöden Schrank!«
    Vielleicht habe ich auf diese Weise das Verhalten meiner Mutter aufgenommen, die mich als kleines Mädchen ja auch hat gewähren lassen in meinen Merkwürdigkeiten. Ich hoffe, dass ich auch die charakterlichen Besonderheiten meiner beiden Töchter erkannt und gefördert habe. Ob es mir bei allen Kindern gleich gut gelungen ist, muss ich heute bezweifeln.
    Über meine ältere Tochter würde ich selbstverständlich ebenso gern berichten wie über Rolf und Andrea. Jedoch hat sie mich gebeten, in diesem Buch nicht vorzukommen. Ich bedaure das zwar, respektiere ihren Wunsch aber.
    Andrea, meine jüngste Tochter, hat ein ganz anderes Wesen als ihre beiden Geschwister. Sie ist ein sehr harmonischer Mensch, sie war es bereits als Baby. Fast nie hat sie geschrien, hat sich nur ein wenig gerührt, dann wussten wir schon, dass ihr etwas fehlte. Als Kind war sie nicht nur harmonisch, sondern auch harmoniebedürftig. Um sich herum konnte sie kein Theater leiden, keine Spannungen, kein Geschrei. Das hält bis heute an. Ganz offensichtlich ist es ihr mitgegeben, es ist ein Teil ihres Wesens.
    Als wir kürzlich einmal Super-8-Filme aus jener Zeit schauten, kommentierte Andrea: »Ich sah aus wie ein kleiner Buddha!« Als kleines Kind war sie ein bisschen mollig, und es gibt eine Filmszene, in der sie sich auf den Rand einer Sandkiste setzt, dort lange regungslos sitzen bleibt und grinst – zufrieden in sich selbst ruhend.
    Mitunter sagte Andrea erstaunliche Dinge. Sie ist immer eine sehr begabte Malerin gewesen, schon im Kindergartenalter hatte sie eine Staffelei und malte mit einem dicken Pinsel die größten Bilder. Als sie acht Jahre alt war, machten wir Urlaub im Schwarzwald. Da sagte sie zu mir: »Mama, hier ist es so schön! Ich will, dass wir hier zusammen wohnen, wenn ich groß bin. Dann male ich immer, aber damit verdient man ja kein Geld. Du fährst auf Skiern zum Gericht und verdienst dort das Geld.« Niemand weiß, woher sie die Erkenntnis nahm, dass Maler kein Geld verdienen. Ich entgegnete: »Ich will auch etwas – und zwar, dass du später bitte selbst Geld verdienst!«
    Ein andermal, ungefähr in demselben Alter, saß Andrea bei uns zu Hause in der Küche, blickte mich äußerst streng an und sprach voller Ernst: »Mama, das war nicht der Inhalt meiner Frage!« Sie hatte mich erwischt. Ich war einer Frage von ihr ausgewichen. Und woher sie den Spruch hatte, lag auf der Hand: von mir. Manchmal äußerte ich diesen Satz gegenüber meinen Kindern. Es kam nicht oft vor, aber wenn, dann ging es um etwas, das mir wichtig war. Zum Beispiel, wenn etwas kaputtgegangen war, ich gefragt hatte: »Wer war das?«, und zur Antwort bekam: »Mama, die Sonne scheint so schön, dürfen wir draußen spielen?« Dann sagte ich: »Hör gut zu. Das war nicht der Inhalt meiner Frage. Möchtest du bitte meine Frage beantworten?« Das haben die Kinder nicht gern getan, aber sie haben es schließlich getan. Und auf einmal drehte Andrea den Spieß um. Sie hatte mir eine Frage gestellt, die ich partout nicht beantworten wollte. Diesmal erzählte ich irgendetwas vom Wetter. Da, ausgerechnet meine Jüngste: »Mama, das war nicht der Inhalt meiner Frage.« Sie wirkte wie ein kleiner Scharfrichter.
    Damit hatte ich rechnen müssen. Mir war es ja immer wichtig, meine Kinder argumentativ zu erziehen. Nicht bloß Regeln aufzustellen, Verbote zu erteilen und Grenzen zu ziehen, sondern die

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