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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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unterwegs von Bischofsgrün im Fichtelgebirge zu einem etwa 150 Kilometer entfernten Dorf, in dem unsere Mutter lebte. Wir Schwestern hatten seit 1943 in verschiedenen Lagern gelebt, in der Kinderlandverschickung, unsere letzte Station war Bischofsgrün gewesen. Als die Russen immer näher kamen, waren die Kinderlager aufgelöst worden. Die Leiterin sagte: »Die Russen sind nur noch dreißig Kilometer entfernt. Seht zu, dass ihr hier wegkommt!« Alle anderen Kinder machten sich zusammen mit den Lehrern auf in Richtung Hamburg, Ursula und ich wanderten zu zweit auf einer anderen Route. Wir wussten, dass unsere Wohnung ausgebombt war, in Hamburg hatten wir nichts mehr. Und unsere Mutter war als Lehrerin in die Kinderlandverschickung weiter südlich in Bayern pflichtversetzt worden, in die Oberpfalz. Wir kannten den Namen des Dorfes, in dem sie wohnte: Daßwang. Irgendwie mussten wir dorthin gelangen. Es gab ja kein Telefon, keine Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen und einen Treffpunkt zu vereinbaren.
    In der Zeit der Kinderlandverschickung hatte ich mir im Schnelldurchlauf notgedrungen Selbstbewusstsein und Selbständigkeit erworben. Mit zehn Jahren, kurz nachdem ich auf die Oberschule gekommen war, wurde ich von Mutter und Schwester getrennt und kam mit meiner Klasse in ein Lager in Garmisch-Partenkirchen. Damals war ich furchtbar unselbständig. Noch nie im Leben war ich allein Straßenbahn gefahren. Nicht einmal meine Zöpfe konnte ich selbst flechten – ich hatte sehr langes Haar, die Zöpfe verfilzten mehr und mehr, weil ich mich nicht traute, sie zu öffnen. Sogar das Essen mit Messer und Gabel bereitete mir Schwierigkeiten, sodass ich in den ersten Tagen der Kinderlandverschickung behauptete, Vegetarierin zu sein, weil ich mit dem Fleisch nicht zurechtkam. Meine Mutter hatte ihre kleine, verträumte Lore immer sehr umsorgt. Doch da ich nun auf mich allein gestellt war, eignete ich mir die praktischen Dinge gezwungenermaßen recht schnell an. Ich schämte mich dafür, dass ich sie nicht beherrschte, und gab mir große Mühe.
    Bis dahin hatte ich meist mit leiser, undeutlicher Stimme gesprochen, nun lernte ich auch, mir Gehör zu verschaffen und mich durchzusetzen. Mein Gerechtigkeitssinn und mein Selbstbewusstsein prägten sich aus.
    Wir hatten eine Lehrerin, von der man heute sagen würde, sie hatte sadistische Züge. Wenn Kinder sich angeblich nicht gut benahmen, entzog sie ihnen das Essen, vorzugsweise den Nachtisch. Diese Lehrerin und manche ihrer Kolleginnen horteten den Nachtisch vieler Kinder und vertilgten ihn anschließend in ihren Zimmern. Manchmal wurden Kinder auch ganz ohne Essen ins Bett geschickt. Da begehrte ich auf, sagte: »Sie wissen, dass Sie nicht das Recht haben, uns hungern zu lassen.« Zumal wir in einem Alter waren, in dem Kinder andauernd Hunger haben.
    Bald galt ich als aufmüpfig, ich bekam schlechte Noten, und einmal sagte die sadistische Lehrerin zu mir: »Du gehörst auf die Hilfsschule.« Darauf erhob ich mich – das musste man damals, wenn man etwas sagen wollte – und erwiderte: »Sie wissen genau, dass das nicht stimmt. Sie sagen es nur, um mich zu verletzen. Und das dürfen Sie nicht.« Auch für andere Schüler setzte ich mich lautstark ein, sodass ich ständig mit Strafarbeiten beschäftigt war. Das begann schon am frühen Morgen: Um fünf Uhr musste ich die Milch von einem weit entfernten Bauernhof in schweren Milchkannen ins Lager schleppen.
    Von Garmisch wurde unsere Klasse nach Hof in Oberfranken verlegt, dann ins nahegelegene Bischofsgrün, wo zufällig auch meine Schwester mit ihrer Klasse untergebracht war. Ein Glück! So fanden wir uns und konnten uns zum Kriegsende gemeinsam auf den Weg machen. Zuerst gingen wir zum fünf Kilometer entfernten Bahnhof, wo wir feststellen mussten, dass keine Züge mehr fuhren. Da unsere Koffer für eine 150 Kilometer lange Wanderung viel zu schwer waren, stopften wir das Nötigste in unsere Kopfkissenbezüge, schulterten sie wie Beutel und stapften los. Landkarten hatten wir nicht, aber wir wussten die ungefähre Richtung. Hin und wieder nahmen uns Soldaten auf ihren Lastwagen für ein paar Kilometer mit – Landser, die in Richtung Westen zurückfluteten. Manchmal gaben sie uns auch etwas zu essen oder zu trinken, hatten Mitleid mit uns hungrigen Kindern.
    Als wir eines Tages wieder mit Landsern unterwegs waren, schrie einer von ihnen plötzlich: »Ihr müsst sofort runter!« Sie schubsten uns vom Wagen, hinein in den Graben. Meine

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