Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
zugrundeliegenden Argumente mitzuliefern – sowie die Gegenargumente der Kinder anzuhören. Irgendwann wendet sich solch eine Erziehungsmethode gegen den Erziehenden. Zwangsläufig kommt es zu Situationen, in denen Kinder die besseren Argumente haben, in denen sie die Eltern mit der Nase auf Widersprüche stoßen oder sie mit Hilfe kritischer Fragen bedrängen. Solche Situationen sind anstrengend – wie auch das ganze Leben mit argumentativ erzogenen Kindern nicht das leichteste ist. Dennoch halte ich die argumentative Erziehung für die beste, es gibt keine gleichwertigen Alternativen. Wer seine Kinder zu selbständigen, selbstbewussten, verantwortlichen, demokratischen Persönlichkeiten erziehen möchte, muss diesen Weg gehen. »Pflegeleichte« Kinder heranzuzüchten war nie mein Ziel. Im Gegenteil.
Nicht nur zu Hause, auch im Beruf hatte und habe ich viel mit Kindern zu tun. Als Richterin hörte ich mehrere hundert Kinder an. Als Rechtsanwältin in Sorgerechtsangelegenheiten lasse ich mir heute noch oft die Einschätzungen und Bedürfnisse betroffener Kinder von ihnen selbst erklären. Auch den Eltern sage ich immer wieder: Wir müssen Kinder so ernst nehmen und so respektvoll behandeln wie Erwachsene. Wir müssen sie ermutigen, eigene Positionen zu finden und zu verteidigen. Kinder müssen lernen, Widerstand zu leisten. Und sie brauchen Möglichkeiten, sich auszuprobieren. Dies alles können sie am besten zu Hause. Auch wenn es sehr anstrengend ist: Man muss ihnen beibringen, dass der Stärkere oder Mächtigere nicht zwangsläufig recht hat und dass er ihnen weder Unrecht antun noch Unsinn zumuten darf.
Kinder dürfen sich nicht alles bieten lassen. Kinder müssen »schwierig« sein dürfen! Denn nur so werden aus ihnen selbstbewusste und konfliktfähige Persönlichkeiten. Gerade für Mädchen und Frauen ist das wichtig. Viel zu viele von ihnen weichen Konflikten viel zu oft aus.
Immer habe ich mich bemüht, meine Kinder zu ermutigen. Brachte eines von ihnen eine schlechte Schulnote mit nach Hause, so waren möglicherweise Faulheit und mangelhafte Vorbereitung die Gründe, das fand ich schnell heraus. Wahrscheinlicher aber war, dass das Kind einen schlechten Tag erwischt hatte, dass der Lehrer den Stoff nicht gut erklärt oder die Fragen nicht klar genug gestellt hatte. Dann sah ich es als meine Aufgabe an, das Kind, das da mit hängendem Kopf vor mir stand, wieder aufzurichten; ihm zu vermitteln, dass kleine Misserfolge – wie die schlechte Note für eine Klassenarbeit – zum Leben gehören und nicht das Geringste über das grundsätzliche Wissen, das Können, die Intelligenz oder womöglich den Wert eines Menschen aussagen. Erst wenn ich mir sicher war, dass das Selbstwertgefühl meines Kindes wiederhergestellt war, hatte ich meine Aufgabe erledigt.
Auch in dieser Hinsicht müssen wir uns bis heute besonders um Mädchen bemühen. Man muss sie ermutigen, ermutigen, ermutigen; ihnen Zuversicht, Selbstbewusstsein und ein gesundes Selbstwertgefühl einimpfen – damit wir eines Tages endlich in einer Gesellschaft leben, in der sich jeder der Gleichwertigkeit aller Menschen und beider Geschlechter bewusst ist, und damit Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen herrscht.
Wie jede Mutter und jeder Vater habe auch ich Fehler gemacht. Manches Mal war ich verständnislos gegenüber meinen Kindern, manche ihrer Eigenschaften erkannte ich viel zu spät. Andererseits gibt es zum Glück auch viele Anzeichen dafür, dass ich einiges richtig gemacht habe als Mutter. Beispielsweise arbeiten alle meine Kinder als Selbständige oder Freiberufler – und das, obgleich sie einer Familie von Beamten und Angehörigen des öffentlichen Dienstes entstammen. Obwohl niemand in ihrem familiären Umfeld ihnen die Selbständigkeit vorgelebt hat, bringen alle drei den Mut, die Kraft und das Selbstbewusstsein auf, unternehmerische Verantwortung zu tragen. Das erfüllt mich mit Stolz.
»Wir sind Kinder! Wehrlose Kinder im Straßengraben. Was geht bloß in dem Menschen vor?« Dies waren meine Gedanken, ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen, an meine Gedanken, als der amerikanische Soldat auf uns schoss. Sein Flugzeug flog sehr tief, sodass ich sein blondes Haar erkennen konnte. Ich schaute ihm direkt in die Augen, als er das Maschinengewehr auf meine Schwester und mich anlegte – und schoss.
Es war im April 1945, die letzte Phase der alliierten Tieffliegerangriffe. Ursula und ich, 16 und 12 Jahre alt, waren
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