Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
damit zurecht.
Unser Vater war elf Jahre älter als unsere Mutter, aber mit seinen 54 Jahren noch weit entfernt vom gewöhnlichen Rentenalter. Eine leistungsgewohnte Persönlichkeit und nun ohne Aufgabe, ohne Einkommen, ohne Beruf und auch zu Hause ohne Macht. In unserer Familie gab es extreme Spannungen, der Vater war voller Zorn. Erst viel später begriff ich, wie unerträglich die Situation für ihn gewesen sein muss. Er hatte im Krieg all seine Energie eingesetzt, hatte seine Gesundheit riskiert, seine Familie allein gelassen – alles für den Staat. Und plötzlich war er ohne Bedeutung, er fühlte sich fallengelassen. »Aber Hans, wir haben den Krieg verloren«, sagte meine Mutter immer wieder. »Du weißt, was das bedeutet.« Natürlich wusste er es. Auch war er sich bewusst, dass der Staat, für den er alles gegeben hatte, nicht mehr existierte. Den Sachverhalt mit der Vernunft zu erfassen, war eine relativ leichte Aufgabe. Die andere, viel schwierigere Herausforderung war für ihn, seine Lage zu ertragen.
Wie die meisten Jugendlichen stellten auch Ursula und ich unbequeme Fragen: Wie konntet ihr diesen Krieg führen? Ihr als Offiziere musstet doch merken, was da gespielt wurde! Viele Väter ließen sich auf überhaupt keine Diskussionen ein, unser Vater nur bedingt. Er versicherte glaubhaft, manches nachhaltig Gute im Krieg bewirkt zu haben. Beispielsweise war er sehr bewandert im Bereich der bildenden Kunst und hatte dafür gesorgt, dass viele Kunstwerke unbeschädigt blieben. Es war ihm ein echtes Anliegen, dass europäisches Kulturgut erhalten blieb, so etwas konnte man gut mit ihm besprechen. Über die negativen, unrechten, grausamen Seiten des Krieges hingegen schwiegen wir bald. Kinder und Jugendliche merken schnell, welche Themen sie besser nicht ansprechen, weil die Diskussion zu nichts führt.
Zu einem Menschen, der sich in einer ähnlichen Lage befindet wie mein Vater damals, würde ich heute sagen: Es bringt nichts, zu grollen und mit dem Schicksal zu hadern. Ein wichtiger und interessanter Teil deines Lebens ist unwiderruflich vorbei, finde dich damit ab und schau nach vorn. – Aber als junger Mensch bekommt man das nicht hin, schon gar nicht als Tochter.
Um nicht tatenlos dazusitzen und seiner Familie zur Last zu fallen, versuchte unser Vater sich im kaufmännischen Bereich, er nahm eine Tätigkeit als Handelsvertreter auf. Natürlich konnte dieser Versuch nicht gelingen. Woher sollte ein ehemaliger General das Wissen und Können nehmen, um als Handelsvertreter zu reüssieren? Überhaupt war es sehr schwierig für ihn im zivilen und vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Es galt das Recht des Stärkeren, der Schwarzmarkt blühte, es herrschte eine Raubtiermentalität. Mit solchen Zuständen konnte ein preußischer Offizier nicht umgehen. Erst einige Jahre später gelang es meinem Vater, beruflich erneut Fuß zu fassen: Er erstellte politische Analysen. Er hielt viele Vorträge, wurde oft von der Konrad-Adenauer-Stiftung beauftragt.
Zum Beispiel bat man ihn, die Frage der Wiederbewaffnung zu beurteilen; auch konnte er sehr gut den Osten einschätzen, was äußerst wichtig war. Insofern wirkte unser Vater am Aufbau der Bundesrepublik Deutschland mit. Finanziell brachte es wenig, das Geld verdiente weiterhin die Mutter, bis Ende der fünfziger Jahre die Pension meines Vaters eintraf. Die leidige Frage nach dem Familienunterhalt – den ja normalerweise das sogenannte Familienoberhaupt bestritt – hatte sich damit endlich erledigt. Ursula und ich sorgten mittlerweile ohnehin für uns selbst.
Kinder brauchen Väter, das gilt heute wie damals. Und es gilt meiner Erfahrung nach insbesondere für Töchter. Dass Mädchen heute wie zu meiner Jugendzeit weit überwiegend von den Müttern erzogen werden, ist ein Umstand, der meinen Beobachtungen zufolge die Entwicklung hin zur gesellschaftlichen Gleichstellung von Männern und Frauen erschwert.
Eltern können ihre Kinder nur dann anders erziehen, als sie selbst erzogen wurden, wenn sie als Erwachsene eine Phase der Bewusstmachung durchlaufen haben. Die meisten Menschen stellen sich dieser Aufgabe nicht, viele haben keine Gelegenheit dazu. Üblicherweise erzieht deshalb jeder Elternteil seine Kinder so, wie er selbst erzogen wurde, und gibt zudem das an seine Kinder weiter, was er im Laufe des Lebens außerhalb der Familie gelernt und erfahren hat. Dadurch pflanzen sich Geschlechterrollen auch dann fort, wenn sie für die Gesellschaft und für den
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