Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
ich für eine Opernsängerin – das wäre mein Ziel gewesen – mit 1,78 Metern zu groß war, meine jeweiligen Partner überragen würde. So entschied ich mich dagegen.
Der zweite Berufszweig, den die Beraterin mir nahelegte, war die Architektur, insbesondere die Garten - oder Innenarchitektur. Diese Berufe waren damals weitgehend unbekannt. Deutschland lag in Trümmern, jeder versuchte, sich mit einfachen Mitteln eine Wohnung herzurichten, fast niemand kümmerte sich um Architektur. Deshalb erschien mir der Vorschlag recht fremd. Außerdem war ich äußerst untalentiert im Zeichnen. »Das ist kein Hindernis«, sagte die Berufsberaterin. »Sie haben das nötige Talent, ein ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen und den richtigen Blick. Sie wären eine gute Architektin, selbst wenn Sie von Anfang an einen Zeichner zur Unterstützung bräuchten.«
Doch ich ließ mich nicht von ihr überzeugen. Heute weiß ich, wie gut die Spezialistin meine Möglichkeiten erkannte. Mit größter Freude und Phantasie gestaltete ich die Innenräume der Häuser und Wohnungen, die ich in meinem Leben bewohnt habe und bewohne. Auch Gartengestaltung ist eine Aufgabe, der ich mich bis heute mit großer Freude widme. Man sagt, ich habe einen »grünen Daumen«. Und als Richterin habe ich zehn Jahre lang Bauprozesse entschieden, habe mit großem Interesse Baustellen besichtigt, Ausschreibungen und Leistungsverzeichnisse studiert, Gutachten geprüft und mich mit Sachverständigen ausgetauscht.
Die dritte Empfehlung der Berufsberaterin war: Rechtswissenschaft. »Wie bitte?«, fragte ich sie nur, denn mit dieser Idee konnte ich am wenigsten anfangen. »Sie haben ein großes Gerechtigkeitsbedürfnis, Sie denken sehr logisch und strukturiert«, erklärte die Beraterin. »Sie argumentieren schlüssig und überzeugend. Deshalb bin ich mir sicher, dass Ihr Weg als Juristin vielversprechend wäre.« In meiner Unsicherheit wandte ich mich an den Lateinlehrer, auf dessen Urteil ich mittlerweile vertraute – trotz seiner anfänglichen Abneigung gegen mich. »Sie kennen meine Meinung: Sie sollten Altphilologin werden«, meinte er. »Aber fangen Sie ruhig mit der Juristerei an, da braucht man auch Latein. Vielleicht satteln Sie später noch um.« So nahm die Sache ihren Lauf, obwohl ich weder eine Vorstellung von der Rechtswissenschaft noch von juristischen Berufen hatte. Nie hatte ich einen Juristen kennengelernt, nie hatte ich mich mit Gesetzen beschäftigt. Ich dachte, Strafrecht und Schuldrecht seien dasselbe. Weitgehend unbedarft begann ich zu studieren.
Erst viele Jahre später wurde mir klar: Vermutlich hatte auch eine prägende persönliche Erfahrung zu meiner Entscheidung für die Rechtswissenschaft beigetragen. Unbewusst zwar, aber maßgeblich.
Ob es wohl die Russen sind? O nein, bloß nicht die Russen! – Es war Ende April 1945, also noch vor der Kapitulation, als eines Nachts plötzlich Panzer in das Dorf rollten, in dem Ursula und ich erst wenige Tage zuvor unsere Mutter wiedergefunden hatten. Angsterfüllt stiegen wir aus dem Bett, schoben die Gardinen einen Spaltbreit zur Seite und versuchten zu erspähen, welcher Herkunft die Soldaten waren, die in Daßwang einmarschierten. »Da, ein Schwarzer!«, rief Ursula plötzlich. Wie erleichtert wir waren! Denn ein schwarzer Soldat bedeutete ja, dass es keine Russen sein konnten. Ein Glück, Amerikaner!
Früh am nächsten Morgen trieben die amerikanischen Soldaten die gesamte Zivilbevölkerung des Dorfes in die Kirche und sperrten uns dort für einige Tage ein. In jenen Tagen erfuhr ich erstmals, welche Gräueltaten in meinem Land unter den Nazis geschehen waren. Die Amerikaner zeigten uns Filme aus dem KZ Auschwitz, das bereits im Januar 1945 befreit worden war. Die Bilder versetzten mich in einen tiefen Schockzustand. Ursel und ich erinnerten uns daran, dass wir während unserer Flucht vor den Russen einmal einen Zug gesehen hatten mit Menschen in gestreiften Anzügen, ausgemergelten Gestalten, sie standen dicht an dicht. In der Kirche in Daßwang wurde uns klar: Es müssen KZ-Häftlinge gewesen sein.
Als wir die Kirche wieder verlassen durften, war das Zimmer, das unsere Mutter, Ursula und ich bewohnt hatten, weitgehend leer geräumt, nur die Reste einiger zertrümmerter Möbelstücke lagen dort noch herum. Die amerikanischen Soldaten hatten polnischen und russischen Zwangsarbeitern die Erlaubnis erteilt, die Wohnungen der Deutschen zu plündern. Natürlich waren wir wütend und
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