Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
bemängelt, die Jungen seien gegenüber den Mädchen in der Schule benachteiligt. Den Umstand, dass Jungen schlechtere Noten haben und im Durchschnitt geringere Abschlüsse erreichen als Mädchen, begründen Kritiker mit den heutigen Lehrmethoden, die sich angeblich zu sehr an weiblichen Bedürfnissen und Verhaltensweisen orientieren. Da ich keine Pädagogin bin, kann und möchte ich dies nicht beurteilen. Aber ich gebe zu bedenken: In meiner Kindheit und Jugend waren die Lehrmethoden noch gänzlich andere als heute – und auch damals fiel den Jungen das Lernen schwerer als den Mädchen. Meinen Beobachtungen zufolge sind die meisten Mädchen und jungen Frauen sorgfältiger, und sie lernen gewissenhafter als Jungen und junge Männer, in der Schule wie an den Hochschulen. So habe ich es als Lehrbeauftragte wahrgenommen, so beschreiben viele Hochschullehrer die Situation. Wie es dazu kommt, mögen Fachleute ergründen. Als Laiin denke ich manchmal: Vielleicht sind Mädchen und Frauen von klein auf tendenziell so geprägt, dass sie brav und folgsam zu sein haben und tüchtig ihre Aufgaben zu erledigen haben? Vielleicht lernen Jungen eher, sich Freiheiten zu nehmen, Grenzen zu überschreiten und Widerspruch zu erheben?
Meine Schwester Ursula und ich waren beide gute Oberschülerinnen, aber unsere Mutter stellte höhere Ansprüche an ihre jüngere als an ihre ältere Tochter. Erzählte ich zu Hause von schwierigen Aufgaben oder von Klassenarbeiten, die mir bevorstanden, sagte die Mutter nur: »Ach, Lore, du schaffst das!« Und Ende der Diskussion. Das hat mich bisweilen verunsichert, manchmal machte es mich regelrecht wütend, weil es so klang, als wäre alles ganz selbstverständlich, ganz ohne Mühe zu erreichen. Bekam Ursula eine Klassenarbeit zurück mit der Note Zwei, dann freute sich unsere Mutter, lobte meine Schwester und sagte: »Siehst du, du packst es!« Brachte ich eine Zwei nach Hause, lautete ihr Kommentar: »Warum ist es keine Eins? Du kannst mehr, Lore, du musst nicht bei einer Zwei stehenbleiben. Bitte, nutze deine Begabung!«
Ungerechtigkeit lag unserer Mutter fern. Im Gegenteil: Sie war der Überzeugung, ihre Tochter Lore sei überdurchschnittlich begabt, sie wollte Gerechtigkeit walten lassen, indem sie beiden Töchtern deren Fähigkeiten entsprechend begegnete. Trotz meiner guten Auffassungsgabe dauerte es einige Zeit, bis ich dieses Anliegen meiner Mutter nicht nur nachvollziehen, sondern auch akzeptieren konnte. Als Kind hatte sie mir meinen kleinen Lore-Balkon hergerichtet, als Teenager erwartete sie herausragende Leistungen von mir, und obgleich die beiden Maßnahmen auf den ersten Blick gegenläufig erscheinen mögen, lagen sie doch auf einer Linie, erfolgten aus derselben Motivation heraus: Sie ging auf meine Persönlichkeit ein, auf meine individuellen Bedürfnisse, Charaktereigenschaften und Möglichkeiten. Ich rechne ihr hoch an, dass sie sich so intensiv mit uns Töchtern beschäftigte.
Eine Erziehung, die das Individuum erkennt und akzeptiert, ist gerade für Mädchen von unschätzbarem Wert. Genauso wie die Förderung der persönlichen Stärken und auch das damit einhergehende Fordern. Von Anfang an machte meine Mutter mir klar, dass eine Begabung – heute würde man sagen: Hochbegabung – kein Grund war, sich etwas einzubilden, sondern in erster Linie eine Pflicht mit sich brachte. Die Pflicht, etwas aus der Gabe zu machen, sie weiter auszubilden und zu nutzen. Ein Mensch, der besonders musikalisch ist, hat erst Grund, stolz darauf zu sein, wenn er virtuos musiziert oder Kompositionen kreiert. Musikalität an sich aber hat keinen Wert, genauso wenig wie Intelligenz. Meine Mutter vermittelte mir, dass die Gabe, schnell begreifen zu können, sowohl die Pflicht zum Lernen als auch soziale Verpflichtungen mit sich bringt. Denn – so argumentierte sie – wenn ich schneller begreife als die anderen, habe ich mehr Zeit für weitere Dinge, die ebenso wichtig sind.
Soziale Verantwortung übernahm ich beispielsweise, indem ich Lateinförderstunden gab, Klassensprecherin wurde und später Schulsprecherin. Dabei nahm ich mir nicht vor: So, jetzt engagiere ich mich für die Schüler; sondern es ergab sich von selbst, aufgrund des Gerechtigkeitsbewusstseins und -bedürfnisses, mit dem ich ausgestattet war. Auch meine Jobs als Nachhilfelehrerin gingen teilweise weit über das Erklären und Üben von Unterrichtsinhalten der Fächer Latein, Englisch oder Deutsch hinaus.
Einer meiner
Weitere Kostenlose Bücher