Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
einer Zeit, in der Frauen scheinbar aus der Rolle fielen, wenn sie in diesen Rollen agierten. Dennoch habe ich mich nie gefragt: Schaffe ich das als Frau? Selbstverständlich nahm und nehme ich die Widerstände wahr, die Ränke, die geschmiedet werden, um Frauen von Macht und Unabhängigkeit fernzuhalten. Jedoch habe ich mich nicht davon beirren lassen. Möglicherweise habe ich diese Haltung unter anderem meinem Vater zu verdanken, der mir einschärfte, ich hätte besondere Begabungen und müsse meinen Gaben entsprechend Besonderes leisten – trotz meines Geschlechts.
Für meine beiden Eltern war es eine Selbstverständlichkeit, dass ich studieren würde – genauso wie für mich selbst. Dabei war das damals überhaupt nicht selbstverständlich für eine junge Frau. Aus meiner Schulklasse nahmen nur zwei oder drei andere Abiturientinnen ein Studium auf. Zu manchen ehemaligen Mitschülerinnen habe ich bis heute Kontakt, noch immer sagen sie: »Allen war klar, dass du studieren würdest. Und dass du eine Karriere machen würdest, davon sind wir auch ausgegangen.« Sie sagen das natürlich aus ihrer heutigen Sicht, mehr als sechzig Jahre zurückblickend. Aber ich muss damals schon den Eindruck erweckt haben, dass ich nicht auf den Gedanken käme, zu Hause zu bleiben und Radieschen zu pflanzen.
Ursula gestaltete ihr Leben nach dem Abitur sehr interessant: Zunächst arbeitete sie eine Zeit lang in einem schönen, traditionsreichen Hamburger Lederwarengeschäft am Jungfernstieg. Dann ging sie nach Südafrika. Nach dem Krieg hatten wir in Süddeutschland eine deutsche Familie kennengelernt, die in Südafrika lebte. Bei jener Familie verbrachte Ursula eineinhalb Jahre. Erst danach begann sie zu studieren. Statt den Spuren meiner älteren Schwester zu folgen oder einen anderen, vergleichbar spannenden Weg einzuschlagen, begab ich mich von der Schule direkt auf die Universität. Denn mein Ziel war, möglichst schnell unabhängig zu sein, auf eigenen Beinen zu stehen.
Mein Lateinlehrer, dem es anfangs nicht leichtgefallen war, mich zu respektieren, sprach mich gegen Ende der Schulzeit zum Thema Berufswahl an: »Ich gehe davon aus, dass Sie Altphilologie studieren und dann ins Lehrfach gehen.« Ähnliches hörte ich von vielen Seiten, es lag nahe: Meine Mutter war Lehrerin, meine Schwester wählte denselben Beruf, sogar meine Großmutter hatte schon als Lehrerin gearbeitet. Doch obgleich ich keine Ahnung hatte, welchen Beruf ich ergreifen wollte oder sollte, eines wusste ich genau: Das Lehramt kam für mich nicht in Frage. Wir hatten jahrelang in Dienstwohnungen gelebt, Lehrern war ich täglich begegnet, von früh bis spät, und diesem »Lehrer-Biotop« wollte ich entfliehen.
Im letzten Schuljahr kam eine Berufsberaterin für drei Tage in die Schule. Sie stellte uns Schülerinnen viele verschiedene Berufe vor, machte schriftliche Tests und führte lange Gespräche mit jeder Einzelnen von uns, um herauszufinden, wo unsere Interessen, unsere Talente und Stärken lagen. Am Ende jener drei Tage sagte die Beraterin zu mir: »Sie haben drei herausragende Begabungen, und eine davon sollten Sie zu Ihrem Beruf machen.«
Die erste Begabung war die Musik. Von klein auf hatte ich gern und gut gesungen, hatte mit größter Freude klassische Musik gehört, in der Jugend dann hatte ich meine Begeisterung für die Oper entdeckt. »Sie sollten erwägen, Musik zu studieren«, meinte die Beraterin. Diese Einschätzung überraschte mich nicht, grundsätzlich hätte ich sehr gern einen mit Musik verbundenen Beruf ergriffen. Aber ich wusste, dass ich ein schwerwiegendes Handicap hatte: Ich konnte keine Noten lesen – und kann es bis heute nicht. Sosehr ich mich auch angestrengt habe, in Bezug auf das Notenlesen blieb ich begriffsstutzig. Jeder erneute Lernversuch war eine veritable Quälerei.
Erst Jahrzehnte später erfuhr ich von dem Phänomen namens Notenlegasthenie, das auch mich am Notenlesen hindert. Bekanntlich gibt es sehr intelligente Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, sogar manch literarisch begabter Mensch ist davon betroffen. Ähnlich ist es bei der Notenlegasthenie; mit Musikalität hat sie nichts zu tun, aber natürlich erschwert es ein Musikstudium beträchtlich, wenn man Noten nur sehr langsam entziffern und deshalb auch nur schwer vom Blatt spielen oder singen kann. Als Schülerin kannte ich den Grund meines Notenproblems noch nicht, aber ich wusste, ein Musikstudium würde schwierig werden. Auch fürchtete ich, dass
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