Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
verzweifelt. Aber der materielle Verlust wog weniger als unsere anhaltende Verstörung über das, was wir zwischenzeitlich über die Nazi-Gräuel erfahren hatten.
Als wir bald danach zwei Zimmer nahe der Militärregierung in Parsberg bezogen, begleitete ich meine Mutter manchmal zu ihrer Arbeitsstelle, sie arbeitete ja als Übersetzerin. So lernte ich Mister Schulbaum und Mister Wald kennen, zwei ursprünglich deutsche Juden, die in die USA emigriert waren. Noch heute sehe ich die Herren deutlich vor mir, Mister Wald mit seiner randlosen Brille auf der spitzen Nase, Mister Schulbaum mit seiner etwas rundlichen Figur. Die amerikanische Militärregierung hatte die beiden als Bildungsoffiziere eingesetzt, ihre Aufgabe bestand darin, zur Entwicklung eines neuen deutschen Schulsystems beizutragen und somit die Umerziehung (»re-education«) der deutschen Bevölkerung zu fördern. Dass sie in Deutschland aufgewachsen waren und lange hier gelebt hatten, danach aber überzeugte amerikanische Staatsbürger geworden waren, qualifizierte die Herren hervorragend für diese Aufgabe. Und ich lernte mit ihnen zum ersten Mal bewusst Juden in verantwortungsvoller Position kennen – Juden, die zudem sehr eindrucksvolle Menschen waren. In der Schule in Hamburg und vor allem während meiner Jahre in den Kinderlagern hatte ich immer nur gehört, Juden seien schlechte, wertlose Menschen, denen man unbedingt misstrauen müsse.
In jenen Wochen veränderten sich mein Weltbild und meine Haltung zur Welt. Als Zwölfjährige fasste ich zwei Entschlüsse fürs Leben. Erstens: Nie wieder werde ich einem Staat blind vertrauen. Zweitens: Nie wieder wird es mir passieren, dass staatliche Verbrechen von derart schrecklichem Ausmaß geschehen, und ich weiß von nichts.
Mehr als ein Jahrzehnt später stellte ich fest: Ein Jurastudium bietet eine gute Basis, um solche Ziele zu erreichen, um den Dingen auf den Grund zu gehen, um die nötigen Informationen quasi aus der Quelle zu schöpfen.
Entscheidend für meine Studienwahl war aber zunächst die intensive Berufsberatung, die wir an der Oberschule erhielten. Sie entsprach der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung damals, im Jahr 1950. Die Bundesrepublik Deutschland befand sich im Aufbau, man wollte junge Menschen so ausbilden, dass sie ihr Bestes zum Aufbau beitragen konnten.
Dass ich so ausführlich von der Berufsberatung berichte, hat mehrere Gründe. Zum einen vermisse ich ähnliche Angebote für junge Menschen heute. Gerade in einer Zeit, in der die Berufswelt sich so rasch ändert und so stark diversifiziert wie heute, wäre es wichtig, dass Fachleute in die Schulen gehen und sich intensiv der beruflichen Orientierung junger Menschen widmen. Zum anderen erscheint es mir bemerkenswert, dass meine Beraterin nicht ein Wort über Frauen - und Männerberufe verlor, über »weibliche Talente«, über die »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« oder über die Schwierigkeiten, die eine Studentin in einem »Männerfach« haben konnte – und ein solches war Jura damals noch, in meinem Semester studierten nur vier oder fünf Frauen unter Hunderten von Männern. Nein, die Beraterin ermittelte die Persönlichkeit und ihre Begabungen und wählte dazu passende Ausbildungen aus, unabhängig vom Geschlecht. Die Frage, ob eine Frau als Juristin reüssieren konnte, thematisierte sie nicht. Dies finde ich umso bemerkenswerter, als noch heute, mehr als sechzig Jahre später, ein Großteil der jungen Frauen sich für »Frauenstudien« entscheidet. Die Zahlen des Wintersemesters 2010/11 in Deutschland sprechen für sich – zum Beispiel die folgenden:
– Rund drei Viertel aller Germanistikstudierenden waren Frauen. Das Fach belegte damit Platz zwei der bei Frauen beliebtesten Studienfächer.
– 85 Prozent aller Studierenden der Grundschulpädagogik waren weiblichen Geschlechts.
– Fünf von sechs Studierenden der Sozialpädagogik waren Frauen.
– Frauen machten weniger als ein Zehntel der Studierenden in den Fächern Maschinenbau und Elektrotechnik aus und nur rund ein Achtel im Fach Informatik.
Diese Liste ließe sich noch lange fortführen.
Ebenso auffällig ist die Verteilung junger Frauen und Männer in den dualen Ausbildungsberufen. Hier die fünf im Jahr 2010 am häufigsten von jungen Männern belegten dualen Berufsausbildungen: Kraftfahrzeugmechatroniker, Industriemechaniker, Elektroniker, Anlagemechaniker für Sanitär-, Heizungs - und Klimatechnik, Einzelhandelskaufmann.
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