Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
selbst findet sich bei meiner Tochter Lore keine Eigenschaft«, wunderte sie sich. In diesem Punkt irrte sie meiner Meinung nach, denn unsere Charaktere mögen zwar verschieden gewesen sein, aber sie sind beziehungsweise waren bei uns beiden gleichermaßen stark ausgeprägt.
Sonntagvormittags war bei uns zu Hause die Zeit der Gespräche. An allen anderen Tagen waren meine Mutter, Ursula und ich ständig unterwegs und kamen kaum zur Ruhe, aber während des Sonntagsfrühstücks – und manchmal noch lange danach – wurde intensiv erzählt und diskutiert, wir sprachen über Gott und die Welt. In jenen Stunden hörten Ursel und ich auch die Geschichten der Familie meiner Mutter, und vor allem die Geschichten der Frauen. In den Jahren 1948 und 49, als Ursula schon aus dem Haus war, sprachen meine Mutter und ich zudem oft über Frauenpolitik – obgleich wir es damals nicht so nannten. Es waren die Jahre, in denen das Grundgesetz entworfen und verabschiedet wurde, das im Mai 1949 in Kraft trat. Meine Mutter erklärte mir, wie es mit der Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Weimarer Republik ausgesehen hatte.
»Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«, hatte es in Artikel 109 der Weimarer Verfassung geheißen. »Aber das nützte nicht viel, weil kaum jemand diesen Grundsatz ernst nahm«, erklärte mir meine Mutter. »Außerdem galt die Weimarer Verfassung zu kurz, dann kam Hitler, der von der Gleichberechtigung überhaupt nichts hielt.« In Bezug auf das Grundrecht der Gleich-berechtigung in der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland war meine Mutter demzufolge skeptisch. Warum sollte etwas Realität werden, das schon zuvor nur auf dem Papier existiert hatte? Meine Mutter hielt Gleichberechtigung zwar eigentlich für selbstverständlich, doch ihre Enttäuschung war zu groß, um an die Umsetzung der Gleichstellung in der Gesellschaft in naher Zukunft zu glauben.
Später, als Juristin, konnte ich die Formulierung aus der Weimarer Verfassung erst richtig deuten: » grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten« bedeutete, dass Ausnahmen möglich waren. Und durch das Wort »staatsbürgerlich« wurden »Rechte und Pflichten« de facto auf das Wahlrecht beschränkt. Dass es in Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland nach harten Auseinandersetzungen schließlich hieß: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« – ganz ohne Einschränkung, ohne Hintertür –, das war also eine neue Errungenschaft für die Frauen.
Trotzdem sollte meine Mutter leider recht behalten. Noch Jahrzehnte nach Inkrafttreten der Bonner Verfassung waren Gesetze gültig, die mit der Gleichberechtigung nicht in Einklang standen. Bis 1953 konnten verheiratete Frauen kein eigenes Bankkonto eröffnen, bis weit in die siebziger Jahre hinein waren sie gesetzlich verpflichtet, den Haushalt zu führen, sprich: dem Mann hinterherzuputzen. Und bis heute sind Männer und Frauen in Deutschland in vielen Bereichen noch immer nicht gleichgestellt. Beispielsweise haben vollbeschäftigte Frauen ein um durchschnittlich 21,6 Prozent geringeres Einkommen als Männer, das ergibt eine Berechnung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Damit liegt Deutschland an der Spitze ganz Europas – in keinem anderen Land dieses Kontinents ist der Gehaltsunterschied zwischen in Vollzeit berufstätigen Männern und Frauen dermaßen hoch. In Polen etwa liegt die Differenz bei »nur« zehn Prozent, in Griechenland, Belgien und Norwegen noch darunter. »Darf ich fragen, in welchem Semester Sie sind?«
»Im fünften«, antwortete die Jurastudentin wahrheitsgemäß.
»Ach«, sagte der Professor mit einem süffisanten Lächeln, »da haben Sie aber schon viel Zeit und Geld aufgewendet, um an den Mann zu kommen.«
Es war in einem großen Hörsaal, gefüllt mit Hunderten Studenten, darunter zwei Frauen. Die Kommilitonin saß weit vorn, ich hinten. Der Professor hatte sie aufgefordert, sich zu einer juristischen Frage zu äußern, die Studentin wusste keine Antwort. Er hakte nach, bohrte und bohrte, stellte weitere, noch schwierigere Fragen. Dabei gehört es zum pädagogischen Basiswissen, dass man einen Schüler, der eine Blockade hat, in Ruhe lassen muss, weil die Blockade sich sonst verhärtet. So wurde auch die junge Frau immer gehemmter, bis sie nichts mehr sagen konnte, mit blutrotem Gesicht dasaß – und der Professor sie mit seinen
Weitere Kostenlose Bücher