Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
kennenlernt, dem entgehen viele bereichernde Bekanntschaften. Man macht sich zu abhängig von Beruf und Familie, viele wichtige Seiten der Welt und des Lebens bleiben einem verschlossen, man bewirkt gesellschaftlich weniger, als man eigentlich könnte und sollte.
Ganz entscheidend war für mich meine ehrenamtliche Tätigkeit im Deutschen Juristinnenbund, dem ich 1956 noch während meiner Zeit als Rechtsreferendarin beigetreten bin. Zu den Hauptzielen des Deutschen Juristinnenbundes gehört es, die Fortentwicklung des Rechts in allen Bereichen zu fördern sowie insbesondere die Gleichberechtigung der Frau in Gesellschaft, Beruf und Familie voranzutreiben und die Lebenssituation von Kindern rechtlich abzusichern. Alles Themen, die mir besonders am Herzen liegen. Viele Jahre lang war der Deutsche Juristinnenbund für mich so etwas wie mein viertes Kind. Ich habe zwanzig Jahre die Familienrechtskommission des Deutschen Juristinnenbundes geleitet, zahlreiche Gesetze auf den Weg gebracht, über zwanzigmal bin ich beim Bundesverfassungsgericht aufgetreten, auch im Bundestag wurde ich angehört – häufig als Vertreterin des Deutschen Juristinnenbundes. Vier Jahre lang war ich auch dessen Präsidentin, heute bin ich Ehrenpräsidentin.
Ich gehöre dreißig Vereinen an, bei vielen davon bin ich Kuratoriumsmitglied oder -vorsitzende, zum Beispiel im Deutschen Kinderschutzbund, im Deutschen Kinderhilfswerk und in der Deutschen Liga für das Kind – was deutlich macht, wie wichtig mir das Wohl und die Rechte von Kindern sind. Außerdem gehöre ich sogenannten Gesellschaftsclubs an, die früher in der Regel nur Männer aufnahmen. Wenn sie Frauen aufnehmen, müssen Frauen die Möglichkeit nutzen. Also bin ich Mitglied zum Beispiel im Überseeclub in Hamburg und im Verein Berliner Kaufleute und Industrieller und im Capital Club in Berlin. Daneben gibt es viele Fachverbände, denen ich angehöre, wie etwa den Deutschen Familiengerichtstag. Würde mein Alltag allein daraus bestehen, als Anwältin anderen Menschen bei ihren Rechtsstreitigkeiten zu helfen und für meine Familie da zu sein, würde das mein Bedürfnis nach Übernahme gesellschaftspolitischer Verantwortung nicht erfüllen.
Zum Leben gehört für mich zum Beispiel auch die Kultur. Ich gehöre vielen musikalischen oder musischen Vereinigungen an, das hat sich für mich beinahe automatisch ergeben. Wenn es beispielsweise einem Konzerthaus an Instrumenten fehlt oder an Geld für eine neue Bestuhlung, dann geht mich das doch etwas an! Ich möchte die schöne Musik genießen, und um das zu können, reicht es nicht allein, eine Eintrittskarte zu kaufen. So ist es dazu gekommen, dass ich in Berlin fast allen Vereinen angehöre, die musikalische Institutionen unterstützen, darunter die Fördervereine für das Konzerthaus, für die Deutsche Oper, die Staatsoper und die Komische Oper. Als Nebeneffekt konnte ich viele Künstler und Künstlerinnen kennenlernen. Es sind inspirierende Begegnungen mit beeindruckenden Menschen – die ich in meinen Funktionen als Mutter und Juristin sehr wahrscheinlich nie erlebt hätte.
Ein Mensch, der in der Gesellschaft lebt, muss für die Gesellschaft etwas tun. So stelle ich es mir vor. Ich habe immer versucht, diese Vorstellung auf viele Arten und auf verschiedenen Gebieten in die Tat umzusetzen. Im Gegenzug hat mir die Gesellschaft vieles zurückgegeben.
Übung macht die Meisterin
»Wenn du monatelang in den Tropen bist, Julius, dann muss dich zu Hause jemand vertreten. Das werde ich tun, ich werde die Fabrik während deiner Abwesenheit leiten. Dafür brauche ich bitte Prokura.« Es geschah um das Jahr 1900, dass meine Großmutter Helene so sprach, die Mutter meiner Mutter, und es war sehr ungewöhnlich zu jener Zeit, dass eine Frau derartige Vorschläge machte. Zumal eine Dame aus guter Gesellschaft, und genau das war meine Großmutter. Aber sie bekam, was sie brauchte und wollte: die Vollmacht, die Peddigrohrfirma ihres Mannes eigenständig zu führen.
Großmutter Helene hatte als Lehrerin gearbeitet, bis sie Julius Brüggmann heiratete und zwei Töchter bekam: Im Jahr 1905 wurde meine Mutter Eva geboren, zwei Jahre später ihre Schwester Inge. Selbstverständlich gab Helene den Lehrerberuf nach ihrer Eheschließung auf, alles andere war undenkbar, aber sie interessierte sich für die Arbeit ihres Mannes und begann bald, ihn zu unterstützen und zu fördern. Julius Brüggmann war Angestellter in einer Firma, die Peddigrohr in den Tropen
Weitere Kostenlose Bücher