Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
verachtenden Worten bedachte, um sich danach von ihr abzuwenden und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Von mehreren hundert Studenten hob keiner die Hand, nicht einmal ein Zischen war zu hören. Kein Geräusch, keine Geste des Widerspruchs.
Ich selbst, damals 19 Jahre alt, fühlte mich wie vom Donner gerührt, ich fragte mich, in welchem »Affenverein« ich gelandet war. Die arme Kommilitonin tat mir furchtbar leid, und ich loderte vor Empörung über diesen Professor. Aber ich bezog die Frauendiskriminierung nicht auf mich. Sie hat mich nicht getroffen, nicht erreicht. Meinen eigenen Wert als Mensch, als Frau fühlte ich nicht in Frage gestellt. Vielleicht ist dieses unerschütterliche Selbstwertgefühl eine glückliche Begabung oder Charaktereigenschaft. Vielleicht hatte es auch mit meiner Erziehung zu tun, damit, dass mein Vater junge Frauen grundsätzlich nicht schätzte und ihnen nichts zutraute – mir aber vermittelt hatte, dass ich eine einmalige Ausnahme sei und mir eine große juristische Karriere bevorstehe.
Natürlich gab es auch Professoren, die mit weiblichen Studenten genauso umgingen wie mit männlichen. Die Regel war, dass ein Professor seine Schüler kaum wahrnahm. Er kam in den Saal, hielt seine Vorlesung, manchmal stellte er Fragen an die Studenten, die er als eine Art graue Masse wahrnahm. Dann meldete sich der eine oder andere besonders kluge Student, gab eine Antwort und hob sich dadurch für einen kurzen Moment von der grauen Masse ab. Nach der Vorlesung verschwand der Professor, für Gespräche stand er nicht zur Verfügung.
Zu Beginn meines Jurastudiums in Hamburg hatte ich mich kein einziges Mal gefragt, ob es richtig oder falsch sei, ein »Männerfach« zu studieren. Auch meine Eltern interessierten sich nicht für die Thematik »Frauen– und Männerberufe«. Sie waren sich sicher, dass ich meinen Weg selbständig finden und erfolgreich gehen würde. Dass wir insgesamt an der juristischen Fakultät nur vier oder fünf junge Frauen unter vielen hundert männlichen Studenten waren, fand ich weder beängstigend noch auf andere Art bemerkenswert. Was mich hingegen sehr irritierte, war die Tatsache, dass ich während der ersten vier Semester überhaupt nichts verstand – als hätten die Professoren eine mir unbekannte Fremdsprache gesprochen. Jetzt ist alles vorbei, jetzt hast du deine Grenze erreicht, sagte ich zu mir selbst. Es heißt ja, dass jeder Mensch eine absolute Grenze hat, die er beim besten Willen nicht überwinden kann.
Da ich das Abitur ohne große Mühe schnell und gut geschafft hatte, war ich es nicht gewohnt, etwas nicht zu begreifen, und konnte mit dieser Situation nicht umgehen. Mir kam alles nur rätselhaft vor, wie eine Geheimwissenschaft. Und das Seltsamste: Meine Kommilitonen verstanden etwas! Nur ich saß begriffsstutzig daneben. Fragen konnte ich sie nicht, denn die Studenten, die sich vor dem Studium nicht gekannt hatten, sprachen auch im Studium nicht miteinander. Ich kannte niemanden von früher. Manchmal kam ich abends nach Hause und sagte zu meinen Eltern: »Ich muss jetzt erst einmal eine halbe Stunde mit euch reden, sonst rosten meine Stimmbänder ein. Ich habe den ganzen Tag noch kein Wort gesprochen.«
Vieles, was wir heute in Bezug auf Kommunikation und Logik für selbstverständlich halten, musste man damals zu Beginn des Jurastudiums quasi »an der Garderobe« abgeben. In der Rechtswissenschaft gelten andere Begriffe, andere Denkweisen und Ableitungen als im Alltag. Irgendwann stellte ich fest, dass fast alle anderen Studenten bereits als Eingeweihte ins Studium kamen: als Söhne von Juristen. Vieles hatten sie schon einmal gehört, und viele Studenten kannten sich, weil ihre Väter Kollegen waren. Diese Erkenntnis beruhigte mich ein wenig, aber sie verhalf mir nicht zu mehr Verständnis für die Inhalte des Studiums.
Wenn die Rechtswissenschaft für mich weitgehend verschlossen blieb, so wollte ich zumindest etwas über die Welt und das Leben im Allgemeinen erfahren. Deshalb ging ich für mein drittes und viertes Studiensemester nach Freiburg im Breisgau. Ich fand es spannend, eine andere Stadt kennenzulernen, weit weg von Hamburg. Außerdem war es die einzige Möglichkeit, bei den Eltern auszuziehen. Eine junge, unverheiratete Frau konnte damals unmöglich eine eigene Wohnung in ihrer Heimatstadt beziehen, die damaligen Konventionen sahen das nicht vor. Aber ein Zimmer zur Untermiete an einem fernen Studienort wurde allgemein akzeptiert.
Weitere Kostenlose Bücher