Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
anbaute und nach Deutschland importierte – ein Rohr, das ähnlich wie Rattan für die Herstellung zum Beispiel von Gartenmöbeln verwendet wurde. Meine Großmutter war von zierlicher Statur und tatkräftigem Wesen – das, was man noch heute eine »starke Frau« nennen würde. Sicherlich war sie energischer als ihr Mann, der einen eher weichen, gutmütigen Charakter hatte, wie meine Mutter mir erzählte. Leider konnte ich keine meiner Großmütter und -väter kennenlernen. Alle starben vor meiner Geburt.
Helene ermutigte ihren Mann, sich selbständig zu machen mit einem eigenen Peddigrohrunternehmen. Mit ihrer Unterstützung baute mein Großvater seine Firma auf. Den Rohstoff produzierte er auf der malaiischen Halbinsel nahe dem heutigen Singapur, zur Verarbeitung verschiffte er das Rohr nach Deutschland, seine Fabrik befand sich bei Hamburg. Zur Ernte musste er auf den Plantagen anwesend sein, und da die Schiffsreisen lange dauerten, blieb er jedes Jahr viele Monate fort. In jenen Zeiten hielt seine Frau erfolgreich die Stellung als Leiterin der Fabrik. Sie dachte nicht daran, dass ihr Geschlecht sie an der Ausübung dieses Berufs hindern könnte. Ganz anders war die gängige Meinung jedoch in ihrem sozialen Umfeld, der sogenannten feinen Gesellschaft. Dort fand man ihr Verhalten gleich doppelt befremdlich: Eine Dame aus gutem Hause, die arbeitete? Eine Frau, die ein Unternehmen leitete? Nein, so was aber auch! Doch meine Großmutter störte sich nicht daran, sondern tat, was sie für richtig hielt. Sie muss eine außergewöhnliche Frau gewesen sein. Zudem war sie eine gute Geschäftsfrau, innerhalb weniger Jahre erarbeiteten Julius und Helene Brüggmann ein beachtliches Vermögen. Sie waren wohlhabend.
Im Alter von zehn und acht Jahren wurden meine Mutter und ihre Schwester zu Vollwaisen: Mein Großvater Julius starb 1916 an den Folgen einer Nierenerkrankung, die er sich in den Tropen zugezogen hatte. Ein halbes Jahr später erlag meine Großmutter Helene einem Krebsleiden. Die Töchter wurden auf verwandte Familien verteilt. Ihre Vormünder nahmen das gesamte Vermögen der Mädchen an sich, sodass sie als junge Frauen völlig mittellos dastanden. Obwohl meine Mutter Eva und meine Tante Inge über viele Jahre getrennt aufwuchsen, schlugen sie ähnliche Wege ein, beide machten Abitur, beide studierten: Eva das Lehramt, Inge Medizin. Da sie gesundheitliche Probleme hatte, konnte sie den Arztberuf jedoch nie praktizieren. Aber auch sie war eine selbstbewusste, starke Frau. Ich mochte meine Tante sehr gern.
So ist es in meiner Familie also Tradition, dass Frauen ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl und eine starke Persönlichkeit haben und dass sie einen qualifizierten Beruf ausüben. Man kann nicht ohne Beruf sein, man braucht eine Existenz! Und der Beruf sollte Freude machen, zudem sollte er zu den individuellen Begabungen passen, sodass man den beruflichen Anforderungen auch gerecht werden kann. Mit diesen Grundüberzeugungen sind alle meine weiblichen Vorfahren aufgewachsen. Sie alle fühlten sich Männern ebenbürtig, sie führten ein selbstbestimmtes Leben, waren wirtschaftlich unabhängig. Über viele Generationen hat sich auf der weiblichen Familienlinie auch der feste Glaube daran fortgesetzt und weiterentwickelt, dass die Frau ihre eigene Stellung und Verantwortung in der Gesellschaft hat.
Sicherlich erklärt es sich unter anderem aus diesem Erbe heraus, dass ich meinen Wert als Mädchen und Frau nie anzweifelte und mich Jungen und Männern nie unterlegen fühlte. Das Bewusstsein der Selbstverständlichkeit von Gleichberechtigung wurde durch Vorbilder und Erziehung von Generation zu Generation weitergegeben. Innere Stärke und Selbstsicherheit, aber auch Fleiß und Verantwortungsbewusstsein waren und sind die Folgen. Möglicherweise spielt auch die biologische Vererbung eine Rolle, man weiß es nicht.
In meiner Kindheit und Jugend erzählte unsere Mutter oft von ihrer Mutter und von ihrer Großmutter, die auch schon eine beeindruckend eigenständige Frau gewesen sein muss. Aber von ihrer Mutter Helene war meine Mutter ganz besonders fasziniert, und sie fand, dass ich Helene schon in jungen Jahren ähnelte. »Lore, du bist die Wiedergeburt deiner Großmutter. Deine Stärke und deine Durchsetzungsfähigkeit ähneln denen meiner Mutter.« Andererseits meinte meine Mutter, dass ich auch meinem Vater glich. Er hatte eine sehr liebenswürdige Seite, die sie bei mir wiederzuerkennen meinte. »Nur von mir
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