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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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eine Art Nachhilfeunterricht für Erwachsene. Repetitorien kosteten viel Geld, was für die meisten Studenten unerheblich war, da sie wohlsituierten Juristenfamilien entstammten. Anders bei mir, meine Eltern konnten mich finanziell nur sehr eingeschränkt unterstützen, und ich selbst wusste nicht, woher ich die Zeit nehmen sollte, um noch mehr Studentenjobs zu übernehmen, als ich ohnehin schon hatte. Ich brauchte ja Zeit zum Lernen.
    Ein sehr angesehener Repetitor war Herr Lützow – wer etwas auf sich hielt, ging zu Lützow an der Außenalster. Ich nahm Probestunden bei ihm, wobei ich feststellte, dass er tatsächlich ein hervorragender Didakt war. Nur: Er stellte seinen Studenten keine schriftlichen Unterlagen zur Verfügung. »Warum geben Sie uns keine Skripte?«, sprach ich ihn an. »Wir würden gern zu Hause nachlesen, was wir bei Ihnen gelernt haben.«
    »Das kann ich Ihnen erklären: Ich kann sehr gut lehren, aber ich kann überhaupt nicht schreiben«, sagte Herr Lützow.
    »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Ich würde gern Skripte für Sie schreiben.«
    »Ja, das können wir ausprobieren. Schreiben Sie ein paar Skripte, und wenn die gut sind, können Sie kostenlos bei mir hören.«
    So haben wir es dann gemacht. Das Verfassen der Skripte gab mir so viel Selbstvertrauen, dass ich im fünften Semester drei große Seminarscheine machte, inklusive Hausarbeiten und Klausuren. Ähnlich ging es im sechsten Semester weiter. Erst in jenen zwei letzten Semestern lernte ich wirklich etwas, und zwar bei Lützow. Danach meldete ich mich zum Examen, sodass ich kurz nach meinem 22. Geburtstag mein erstes Staatsexamen in der Tasche hatte.
    Jura ist ein sehr schwieriges Studium, rund ein Drittel aller Studenten fällt noch heute beim ersten Examen durch. Ich selbst hatte nach den Übungen noch immer nicht alles wirklich verstanden, es gab viele weiße Flecken auf meiner Landkarte. Trotzdem schaffte ich ein Prädikatsexamen. Wahrscheinlich hatten meine ganzen Probleme also auch mit dem mir eigenen Perfektionismus zu tun, den ich bis heute nicht ablegen konnte. Mich mit einem gesunden Halbwissen durchzuschummeln ist einfach nicht meine Sache. Leider. Meine jüngste Tochter sagt manchmal zu mir: »Hinter dir steht immer ein Scharfrichter mit dem Beil. Und er fragt dich: ›Was? Mit so wenig kommst du hier an? Das muss aber viel mehr sein!‹« Sicherlich hätte ich es im Leben häufig leichter gehabt, wenn ich in der Lage wäre, in Bezug auf Wissen und Fleiß auch einmal Fünfe gerade sein zu lassen. Andererseits bin ich eben, wie ich bin, und mein Perfektionismus hat mir in manch einer Situation sehr geholfen – mir und auch anderen Menschen.
    Im Anschluss an das Examen, zu Beginn des Jahres 1955, fing mein Referendariat an. Das Rechtsreferendariat dauerte damals üblicherweise dreieinhalb Jahre, man verbrachte es an verschiedenen Stationen, an denen man jeweils etwa ein halbes Jahr blieb. Auf einer Tagung traf ich zufällig Frau Dr. Plum aus Freiburg wieder, die mich ansprach: »Frau Kollegin, haben Sie nicht Lust, zu uns zu kommen?« – »Vielen Dank für das Angebot«, erwiderte ich. »Ich werde gern darüber nachdenken.« – Was eine seitens Frau Plum sicherlich unerwartete Reaktion war ; als würde eine Maus sagen: »Danke für den Käse, aber ich weiß gar nicht, ob ich gerade Appetit darauf habe.«
    Vermutlich hätte fast jeder andere junge Jurist sofort zugesagt, man bekommt schließlich nicht jeden Tag ein Angebot von einer Spitzenkanzlei. Mich hinderten jedoch zwei Probleme an einer spontanen Zusage. Zum einen hatte ich Angst, den Anforderungen nicht zu genügen. Ich dachte: Die drei Frauen sind solche Koryphäen, was will ich denn bei ihnen? Ich habe doch von nichts eine Ahnung! Außerdem war ich mir nicht sicher, ob es für mich erstrebenswert war, so zu sein und zu leben wie Frau Plum, Frau Fettweis und Frau Huber-Simons. Vor allem Frau Plum, die mich angesprochen und eingeladen hatte, weckte in mir Ängste: Sie schien so herb, so männlich.
    Keine Frau trug damals Hosen, so etwas gab es überhaupt nicht. Man hatte selbstverständlich Röcke an, auch Frau Dr. Plum. Sie trug Kostüme, die fast genauso aussahen wie Herrenanzüge: graue Jacken mit Nadelstreifen, vom gleichen Material und Schnitt wie Herrensakkos. Dazu Röcke bis zum Boden, gerade geschnitten in Kastenform, und weiße, hochgeschlossene Hemdblusen. Die Frisur von Frau Dr. Plum war ein Herrenhaarschnitt, kurz und glatt zurückgekämmt, im

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