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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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war er tot.
    Als Mitglied einer studentischen Verbindung wurde Hellmuth sehr festlich von seinen vielen Bundesbrüdern verabschiedet. Die Beerdigung erlebte ich wie eine Marionette. Ich lief und lief und funktionierte – und doch war ich nicht wirklich dabei.
    Bis heute habe ich Kontakt zu Hellmuths jüngerem Bruder Paul-Heinz. Und wenn ich in München bin, fahre ich immer zu Hellmuths Grab auf dem Freimanner Friedhof. »Assessor Hellmuth Streicher«, steht auf dem Stein. Anders als bei uns im Norden ist es in Süddeutschland üblich, die Menschen mit Berufsbezeichnung zu begraben.
    Nach der Beerdigung, zurück in Hamburg, verzog ich mich in mein Zimmer im ersten Stock und ließ mich nirgends mehr blicken. Ich hatte Prüfungstermine verpasst, der nächste Examenstermin war erst im Sommer. Ohnehin wäre ich zu Prüfungen wohl nicht fähig gewesen. Es ging mir sehr schlecht, ich war wie gelähmt, war fern der Welt. Meine Eltern konnten mit der Situation überhaupt nicht umgehen, sie waren hilflos und selbst voller Trauer. Sie hatten Hellmuth sehr gemocht. Wir sahen uns kaum in jenen Wochen, obwohl wir unter einem Dach lebten.
    Von einem Moment zum anderen war ich nicht mehr jung. Ich konnte mit Gleichaltrigen nichts mehr anfangen, fühlte mich wie aus meinem Leben und meiner Generation hinauskatapultiert und auf einen anderen Planeten versetzt. Da meldete sich meine Freundin Renate, eine phantastische Frau, die in der Nähe von Freiburg wohnte. Sie war etwas älter als ich und sagte: »Du musst dir vorstellen, dir wurde ein Bein amputiert. Es wächst nicht nach. Dein Leben ist völlig verändert gegenüber der Zeit, in der du beide Beine hattest. Aber du wirst lernen, mit einem Bein zu leben.« Das war genau das richtige Bild. Man kann nicht mehr zurück ins alte Leben ; aber man kann lernen, das neue Leben anzunehmen.
    Renate und andere Freiburger Freunde halfen mir sehr dabei. Renate lud mich zu sich und ihrem Mann nach Hause ein. »Tu einfach, wonach dir der Sinn steht«, riet sie mir. »Wenn du gar nichts tun möchtest, nur herumliegen und träumen möchtest: nur zu. Wenn du den ganzen Tag Musik hören möchtest: herzlich willkommen. Wenn du allein sein möchtest: bitte schön. Wenn du etwas mit uns unternehmen möchtest: sehr gern.« Zuerst hörte ich von morgens bis abends Bach. Es gibt ja nichts Klareres und nichts Ordnenderes als die Musik von Bach. Sie war für mich ein großer Trost. Dann kam ich langsam, ganz langsam wieder zu mir. Mal unternahmen Renate und ich etwas, mal half ich ihr bei der Arbeit. Ihr Mann war Arzt, Renate machte das Büro und die Buchführung. Nach ungefähr einem Monat war ich so weit wieder aufgebaut, dass ich nach Hamburg zurückkehren und das Examen fortsetzen konnte.
    Jeder Mensch, der Schicksalsschläge erlebt, kann entweder bis neun auf die Bretter gehen, oder aber er findet irgendwann einen Weg, weiterzuleben und das Erlebte in das eigene Leben zu integrieren. Man lernt, sich der Endlichkeit des Lebens bewusst zu werden und sie zu akzeptieren. Wenn man in jungen Jahren einen viel zu frühen Tod miterlebt, relativiert sich einiges. Die Prioritäten verschieben sich, die Bewertung, was wichtig ist und was nicht. All das kann man daraus lernen, aber es dauert eine ganze Zeit. Auch Renates Mann Dieter half mir sehr dabei. »Wir versuchen jetzt, dich zurück ins Leben zu holen. Du bist ja nicht mit gestorben. Wir wollen dich behalten!« Heute lebt er selbst nicht mehr, keiner meiner Freiburger Freunde aus jener Zeit ist noch am Leben. Renate starb an Krebs.

    »Frau Kollegin, Sie sind wieder in Hamburg?« Vollkommen unerwartet rief mich Frau Dr. Plum an. Sie hatte davon gehört, was mir widerfahren war.
    »Ja, ich mache jetzt das zweite Staatsexamen.«
    »Danach kommen Sie bitte zu uns. In Hamburg können Sie es jetzt doch nicht aushalten, da erinnert Sie ja alles an Ihren Mann. Und wir können Sie hier sehr gut gebrauchen. Machen Sie schnell Ihr Examen, und dann fangen Sie gleich bei uns in der Kanzlei an. Wir freuen uns auf Sie.«
    Am 6. August 1959 schloss ich das zweite Staatsexamen ab, und wenige Tage darauf ging ich als Anwaltsassessorin in die Kanzlei Dr. Plum, Dr. Fettweis und Dr. Huber-Simons nach Freiburg.

Vater, Mutter, Kinder, Karriere
    »Bin im Laubfrosch. Rudolf«
    »Bin immer noch im Laubfrosch. Rudolf. 20 Uhr«
    »Im Laubfrosch. R. 21 Uhr«
    »Immer noch. 22 Uhr«
    »Bin nicht mehr im Laubfrosch. Rudolf. 23 Uhr«
    Die Zettel klemmten unter der Windschutzscheibe

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