Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
meines Autos, das vor der Kanzlei Dr. Plum parkte. Rudolf war ein befreundeter Anwaltskollege, der in einer anderen Kanzlei arbeitete. Manchmal holte er mich abends nach der Arbeit auf einen Schoppen Wein ab, dann gingen wir meist in den Laubfrosch, die nächstgelegene Kneipe. Als er an jenem Abend an der Kanzlei Dr. Plum vorbeikam und Licht an meinem Platz sah, war es gegen 19 Uhr. Rudolf dachte sich: Gleich kommt Lore wohl herunter, vielleicht hat sie Lust auf einen Wein. Es gab noch lange keine Mobiltelefone, und sowohl das Kanzleitelefon als auch die Klingel wurden abends abgeschaltet. Deshalb hinterließ er den Zettel an meinem Wagen. Stündlich kehrte Rudolf zurück, stündlich sah er weiterhin das Licht an meinem Platz. Als ich das Büro verließ und Rudolfs Zettel fand, war es nach ein Uhr in der Nacht.
Ich war 27 Jahre alt, seit nicht einmal einem Jahr im Anwaltsberuf tätig und arbeitete rund um die Uhr, fast ohne Unterbrechung. Meine kleine hübsche Freiburger Wohnung, in schöner Lage oben am Berg, nutzte ich fast nur zum Schlafen. Wenn überhaupt. Es gab Nächte, in denen ich es wegen der vielen Arbeit nicht nach Hause schaffte. Dann ruhte ich mich nur ein paar Stunden auf der Couch in der Kanzlei aus, und weiter ging es mit der Arbeit. Wahrscheinlich erlebte ich so etwas wie einen Positivschock – nach dem Negativschock des Studiums, der mich anfangs glauben gemacht hatte, ich wäre für die Juristerei nicht geeignet. Nun, als Anwaltsassessorin bei Frau Dr. Plum und ihren Kolleginnen, lernte ich, wie man systematisch und strukturiert vorgeht und dadurch Erfolge erzielt. Ganz gleich, ob man Wirtschaftssachen anwaltlich betreut, einen baurechtlichen Konflikt austrägt, sich mit kirchlichen Orden auseinandersetzt oder einen Unterhaltsprozess führt. Mit all diesen und vielen weiteren Themenbereichen war ich in Freiburg befasst. Was ich dort gelernt habe, hat meine Arbeit ein Leben lang beeinflusst.
Das dritte Lebensjahrzehnt ist eine schöne, anspruchsvolle und fürs ganze Leben entscheidende Zeit. Ein junger Mensch zwischen zwanzig und dreißig Jahren hat viel Kraft, viele Möglichkeiten und viel Eigenverantwortung. Mit der Wahl des Studienfachs oder der Berufsausbildung legt er den ersten Gleisabschnitt Richtung beruflicher Zukunft. Natürlich kann man später noch andere Richtungen einschlagen. Das bedeutet jedoch immer, einen Umweg zu fahren. Umwege können interessanter und schöner sein als der direkte Weg. Aber sie kosten Zeit.
Während des Studiums und in den ersten Berufsjahren schüttet man das Fundament für die Karriere. Es sind auch die Jahre, in denen man üblicherweise das Elternhaus verlässt, vielleicht wechselt man zusätzlich den Wohnort. Man beginnt, ein eigenständiges Leben zu führen. Viele junge Menschen legen im dritten Lebensjahrzehnt den Grundstein für die eigene Familie, sie schließen eine feste, lang anhaltende Partnerschaft. Damals, in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, heiratete man gleich, man lebte nicht unverheiratet zusammen. In der Regel kamen die ersten Kinder vor dem dreißigsten Geburtstag ihrer Eltern – auch ich hätte mir früh eigene Kinder gewünscht. Oft dachte ich daran, wie schön es gewesen wäre, wenn mein erster Mann etwas länger hätte gesund bleiben und leben dürfen, sodass wir vor seinem Tod ein gemeinsames Kind hätten bekommen können. Auch meine Schwiegereltern hätten Hellmuths Tod bestimmt eher ertragen können, wenn ihnen ein Enkel von ihm geblieben wäre. Aber das Leben eines jeden Menschen durchläuft Höhen und Tiefen, es ändert nichts, wenn man sein Schicksal wieder und wieder beklagt.
Heute bekommen zwar viele Menschen ihre ersten Kinder mit über dreißig Jahren, trotzdem bleiben die Lebensjahre zwischen zwanzig und dreißig angefüllt mit Schritten, Erfahrungen, Entwicklungen und Entscheidungen von weitreichender Bedeutung. Natürlich darf man sich auch mal ausprobieren. Und auch Fehlentscheidungen sind nicht immer zu vermeiden und können meist korrigiert werden. Aber es wäre schade, ein oder mehrere Jahre unüberlegt verstreichen zu lassen. Möglicherweise verbaut man sich dadurch Chancen fürs ganze Leben.
Als meine Kinder Abitur machten, sprach ich viel mit ihnen über dieses Thema. Ich riet ihnen, sich gründlich Gedanken zu machen, wie sie in Zukunft leben wollten, und entsprechend die folgenden Jahre zu planen und zu gestalten. Es ging mir nicht darum, dass sie allgemein besonders anerkannte
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