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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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München, um ihm zuzuhören. Anschließend folgte er mir nach Hamburg, er suchte sich eine Stelle als Direktionsassistent bei einem Unternehmen im Hafen. Ich wäre im Frühjahr 1959 mit dem Examen dran gewesen, danach, so war der Plan, würde ich als Richterin arbeiten. Ein Ausbilder von mir, Herr Dantzer vom Oberlandesgericht, wollte mich unbedingt als Richterin in Hamburg haben. Hellmuth und mir gefiel der Plan. »Das passt doch hervorragend«, sagte mein Verlobter. »Einer von uns hat etwas Festes, Sicheres, der andere könnte als Anwalt arbeiten.« Wir wollten ja Kinder bekommen. Wir waren uns einig darin, dass eine Familie mit mehreren Kindern etwas Wunderschönes ist. Unsere Hochzeit sollte im Februar 1959 stattfinden.
    Kurz vorher, um Weihnachten herum, ging es Hellmuth nicht gut. Vielleicht hatte er sich eine Magenschleimhautentzündung zugezogen? Er fühlte sich schwach und hatte Bauchschmerzen, die, wie wir annahmen, vom vielen Kaffee, vom unregelmäßigen Essen und vom Prüfungsstress herrührten. Doch als sein Zustand sich verschlechterte, ließ Hellmuth sich im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf untersuchen.
    »Ihr Verlobter hat Krebs. Er wird nur noch wenige Wochen leben.« Mit mir sprach der Professor ganz offen, Hellmuth informierte er nicht. Und ich brachte es nicht fertig, Hellmuth die Wahrheit zu sagen – die Kraft hatte ich nicht. Hätte ich es tun sollen, tun müssen? Ich weiß es nicht. Wie sagt man so etwas einem jungen Mann? »Weißt du was, du hast nur noch ein paar Wochen zu leben. Es lohnt sich nicht mehr, dass wir heiraten.« Nein, das brachte ich nicht über mich. Hellmuth war ein so lebensfroher Mensch, so ein Strahlemann. Ein blonder, blauäugiger Hüne.
    Zunächst konnten die Ärzte nur Metastasen feststellen, erst nach vielen Untersuchungen fanden sie den Ausgangstumor, es war Hodenkrebs.
    Als der Hochzeitstermin kam, lag Hellmuth schon. Wir bewohnten bei meinen Eltern im Haus in Flottbek zwei Zimmer im ersten Stock. Dort wurden wir getraut, am Krankenbett. Als ich ihm Treue in guten wie in schlechten Zeiten versprach, war mir bewusst, dass die Zeit, die uns bevorstand, in erster Linie schlecht sein würde – und sehr kurz. Hellmuth wusste es noch immer nicht. Er ahnte, dass er sehr krank war, aber er schmiedete weiterhin Zukunftspläne. Er sprach von den Kindern, die wir bekommen würden, er malte sich aus, wie sie aufwachsen würden.
    Im März sagte Hellmuth zu mir: »Du, Lore, ich kann nicht mehr.« Zwei Tage später starb er, am 16. März 1959. Er wurde 26 Jahre alt.
    Die letzten Wochen hatte er im Krankenhaus verbracht. Da er unter unerträglichen Schmerzen litt, konnte er nicht zu Hause bleiben. Er musste unter ärztlicher Aufsicht mit hohen Morphiumdosen behandelt werden. Ich war rund um die Uhr bei ihm, allein. Hellmuth hatte keine Zeit gehabt, Freunde in Hamburg zu finden. Seine Familie kam ihn nicht besuchen in den letzten Tagen. Mir hatte man eine Couch in sein Einzelzimmer gestellt. Ich pflegte ihn, so gut ich konnte, er wollte keine Krankenschwester um sich. Er wünschte sich, dass ich ihn versorgte.
    Da Hellmuth katholisch war, fühlte ich mich verpflichtet, einen Pfarrer zu holen für die Letzte Ölung. Tatsächlich fand ich einen, mitten in der Nacht.
    »Mein Mann ist gestorben«, sagte ich.
    »Ist er noch warm?«, fragte der Pfarrer, »sonst hat’s keinen Sinn.« »Er ist vor einer Stunde gestorben.«
    »Na gut.«
    Die folgenden Wochen lief ich herum wie in Trance. Es gab so vieles zu tun, zu organisieren. Unter anderem mussten hohe Rechnungen beglichen werden, die Ärzte hatten alle möglichen Therapien versucht, die die Krankenkasse nicht übernahm. Chemotherapie gab es damals noch nicht.
    Hellmuths Vater, ein sehr feiner, liebenswerter Mann, kam herauf nach Hamburg und ließ seinen Sohn nach München überführen, wo er in einem Familiengrab beerdigt wurde. Meine Schwiegermutter kam nicht. Den Tod ihres Ältesten konnte sie nicht begreifen, nicht ertragen. Sie war von der Trauer gebrochen und suchte in ihrer Verzweiflung nach Schuldigen. Später erklärte sie mir mehrfach: »Hellmuth starb, weil er sich mit einer Ketzerin zusammengetan hat.« Ich war Kirchenmitglied und bin es bis heute: in der evangelisch-lutherischen Kirche. Dass eine Protestantin sich ihren ältesten Sohn »geangelt« hatte, das hatte sie von Anfang an für ein Unglück gehalten. Das Schicksal schien ihr recht gegeben zu haben: Vor unserer Heirat war Hellmuth das blühende Leben, danach

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