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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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hatte. Auch der Umstand, dass es bis dahin nur zwei Richterinnen bei der Hamburger Justiz gab, trug zu meiner Entscheidung bei. Nicht zuletzt freute ich mich natürlich auch darauf, meine Eltern und meine Schwester wieder öfter sehen zu können. Im Juni 1960 verabschiedete ich mich also aus Freiburg und kehrte nach Hamburg zurück.

    Der Herr trat in den Gerichtsraum und blieb stehen. Es ging um seine Ehescheidung, ich saß vorn und sprach ihn an: »Guten Tag, kommen Sie bitte nach vorn und nehmen Sie hier Platz.« Der Herr reagierte nicht. Er kam aus Persien, hatte aber keinen Dolmetscher beantragt. So ging ich davon aus, dass seine Deutschkenntnisse ausreichten. Aber vielleicht hörte er schlecht? Ich sprach ihn erneut an, diesmal lauter. »Sie kommen bitte hierher nach vorn.« Keine Reaktion. Das war seltsam, zumal der Herr beim letzten Termin nicht erschienen war. Seinetwegen hatten wir diesen neuen Termin angesetzt. Ich wandte mich an seinen Anwalt: »Was ist los? Was machen wir jetzt?« – »Ja, ich weiß auch nicht«, entgegnete der Anwalt. Er tippte seinen Mandanten an. »Gehen Sie nach vorn, bitte.« Endlich bewegte er sich, die beiden nahmen Platz. Ich richtete das Wort abermals an den Perser, abermals reagierte er nicht. Er tat, als hätte niemand etwas gesagt. Er schaute an mir vorbei, als gäbe es mich nicht.
    »Hat er vielleicht doch Probleme mit der Sprache? Brauchen wir einen Dolmetscher?«, fragte ich den Anwalt.
    »Nein, mein Mandant lebt schon sehr lange in Deutschland. Er hat ein Teppichgeschäft, in dem er selbst die Kunden bedient. Er spricht fließend Deutsch.«
    »Dann weiß ich nicht, was das Theater zu bedeuten hat. Dass Sie nicht reagieren, dass Sie nicht reden, was soll das, Herr X?«
    Er schaute sich im Saal um, guckte zur Richterbank und sagte dann: »Wann kommt eigentlich der Richter? Ich sehe hier keinen Richter.«
    »Was soll das heißen?«, fragte ich nach. »Würden Sie die Güte besitzen, einmal herzuschauen? Vor Ihnen sitzt Ihre Richterin.«
    Auch der Anwalt wirkte zunehmend verwirrt.
    »Ich sehe keinen Richter. Eine Frau ist kein Richter«, meinte der Perser.
    »Aha. Habe ich richtig verstanden? Sie sind persischer Staatsangehöriger. Sie sind in Deutschland zu Gast und genießen hier viele Rechte. Und Sie meinen, Sie seien nicht verpflichtet, die Regeln Ihres Gastgeberlandes anzuerkennen?«
    Keine Reaktion.
    »Sie irren. Und wenn Sie bei Ihrer Haltung bleiben, werden Sie erleben, dass dieser Staat Sie bestraft.«
    Er sagte keinen Ton. Mir blieb nur eine Möglichkeit.
    »Ich verurteile Sie wegen ungebührlichen Verhaltens vor Gericht zu drei Tagen Ordnungshaft.« Ich rief den Wachtmeister herein und ließ ihn den persischen Herrn zur Untersuchungshaftanstalt bringen. Drei Tage verbrachte der Herr im Untersuchungsgefängnis. Dann saß er erneut vor mir – und konnte sprechen.
    Es war das einzige Mal in meiner gesamten dreißigjährigen Zeit als Richterin, dass ich jemanden wegen Ungebühr vor Gericht bestrafte. Ich tat es nicht gern. Aber Herr X ließ mir keine andere Wahl. Später kam ich oft an seinem Geschäft vorbei, es befand sich mitten in der Innenstadt. Der Inhaber stand immer etwas im Hintergrund und schaute aus dem Fenster. Jedes Mal, wenn er mich sah, wandte er sich mit Widerwillen ab. Das machte mir nichts aus, ein anderes Verhalten erwartete ich nicht. Der Herr hatte die Macht des Staates gespürt, hatte sich ihr beugen müssen. Den Ausdruck von Ekel in seinem Gesicht konnte ich mit einem Lächeln wegstecken.
    Hin und wieder erlebte ich es als junge Richterin am Landgericht, dass Männer versuchten, mich altväterlich zu behandeln. In etwa nach dem Motto: »Schauen Sie mal, junge Frau, ich zeige Ihnen, wie die Sache funktioniert.« Andere Männer versuchten, mein Mitleid zu erwecken. Aber die meisten, derer Angelegenheiten ich mich als Richterin annahm, verhielten sich wie einem männlichen Richter gegenüber. Zumindest fielen mir kein Machogehabe und keine anderen Verhaltensweisen auf, die mit meinem Geschlecht hätten zusammenhängen können. Ich achtete auch nicht besonders darauf. Die Inhalte der Prozesse interessierten mich mehr.
    Deutlicher spürbar war das patriarchalische Verhalten im Kollegenkreis. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich erledige die Sache für Sie.« Solche und ähnliche Bemerkungen hörte ich öfter – und hörte dann nicht weiter hin. Wie kamen die Herren darauf, sich ungefragt um meine Sachen kümmern zu müssen oder wollen? Ich konnte

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