Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
bisweilen auch Väter.
Als Richterin über das Schicksal von Kindern zu entscheiden war die Aufgabe, die mir am meisten zu schaffen gemacht hat. In den dreizehn Jahren, die ich als Familienrichterin am Hanseatischen Oberlandesgericht arbeitete – zunächst als Beisitzerin, später als Vorsitzende –, habe ich etwa fünfhundert bis sechshundert Kinder angehört und gemeinsam mit meinen Kollegen entschieden, bei welchem Elternteil die Kinder leben sollten. Jener Elternteil erhielt auch das Sorgerecht. Das gemeinsame Sorgerecht nach Scheidung war damals noch nicht die Regel, es wurde als Institution erst 1998 eingeführt. Unter den Kindern, die ich besuchte, waren auch Babys. Kritiker meinten, es sei Unsinn, Säuglinge »anzuhören«. Aber ich wollte mir deren Zuhause anschauen, die Geschwister kennenlernen, ich wollte sehen, wie die Babys in die Familie eingebunden waren. In meinem Senat habe ich fast alle Anhörungen übernommen, weil meine männlichen Kollegen sich sehr schwertaten, Kinder anzuhören. Sie waren kinderlose Männer.
Was ist für das Kind am besten? Was kann und wird der Vater oder die Mutter für das Kind tun? Wie können Vater oder Mutter dem Kind schaden? Wo bekommt es mehr von dem, was es braucht? Wo bekommt es mehr Liebe, Geborgenheit? Wo bekommt es Halt, wo die umfassendere Bildung? Wie wird das Kind sich entwickeln, wie werden die Eltern sich entwickeln? Wo kann das Kind so sein, wie es ist? Fragen wie diese ließen mich nicht los, sie begleiteten mich von morgens bis abends. Ich schlief damit ein, ich wachte damit auf. Mein Grundsatz, zwischen Privatleben und Beruf strikt zu trennen, ließ sich, wenn es um Kinder ging, nicht realisieren.
Sehr lebendig ist immer noch meine Erinnerung an das Mädchen Solveig, dessen geschiedene Eltern einen täglichen Wohnungswechsel vereinbart hatten. Solveig war im Kindergartenalter und musste jeden Tag umziehen. Wenn sie morgens aufwachte, wusste sie oft nicht, wo sie war. Die Kleine drohte durchzudrehen. Deshalb hatte die Mutter uns Richter beauftragt, einen anderen Aufenthaltsmodus zu finden.
Solveig besuchte einen Kinderladen, eine autonome Einrichtung. Dort sprach ich sie zuerst. Sie erzählte mir: »Bei Mama ist alles schön.« Dann ging ich zum Vater, er wohnte in einem Haus mit Garten. Seine neue Lebensgefährtin hatte ein Kind im gleichen Alter wie Solveig. Äußerlich war alles perfekt – aber Solveig sagte: »Bei Mama ist es noch besser.« Als ich bei der Mutter auftauchte, war diese höchst irritiert. »Hätten Sie sich doch bloß angekündigt! Dann hätte ich wenigstens die leeren Weinflaschen runtergebracht!« – »Entspannen Sie sich«, entgegnete ich, »ich trinke abends auch gern ein Glas Wein. Darum geht es nicht, und deshalb rufe ich vorher nicht an: Damit Sie nicht anfangen, die Gardinen zu waschen. Das alles ist nicht nötig. Ich möchte nur die Welt des Kindes erleben.«
Die Mutter wohnte in einer relativ beengten Altbauwohnung, aber das schien Solveig nicht zu bemerken. »Komm, ich zeig dir unseren großen Balkon!«, sagte sie, nahm mich an der Hand und führte mich auf einen etwa zwei Quadratmeter kleinen Küchenbalkon, der mit Kunstrasen ausgelegt war. »Ist es hier nicht schön?«, fragte Solveig. Dann führte sie mich in ihr »tolles Schlafzimmer« – einen Raum mit zwei Matratzen auf dem Fußboden, eine für die Mutter, eine für das Mädchen. Solveig fand das alles paradiesisch und, wie sie wiederholte, »besser als bei Papa«. Das war eine klare Aussage. Wir beschlossen dann, dass das Kind hauptsächlich bei der Mutter leben und den Vater regelmäßig besuchen sollte.
Nie, nicht ein einziges Mal, sagte ein Kind zu mir: »Was willst du?«, »Lass mich in Ruhe!«, »Geh weg!« oder ähnliche Worte, nie erfuhr ich Ablehnung durch ein Kind, das ich anhörte. Im Gegenteil, ich hatte immer den Eindruck, die Kinder wurden entlastet dadurch, dass sie einer neutralen Person erzählen konnten, wie ihnen zumute war. »Du kannst mir alles sagen, ich sage es nicht weiter, wenn du nicht möchtest«, versprach ich ihnen. Dann öffneten sie sich. Abschließend fragte ich: »Meinst du, ich dürfte Papa dieses und Mama jenes sagen?« Sie antworteten entweder »Hm, ja, darfst du« oder »Nee, das nicht«. Daran hielt ich mich.
»O Gott, jetzt wird das Kind auch noch angehört, das arme, wie schrecklich!« Wer so etwas sagt, nimmt eine typische Erwachsenenperspektive ein. Die Anhörung an sich war nicht das Problem. Problematisch fand ich
Weitere Kostenlose Bücher