Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
Großen gab es das Recht des Kindes, sich bei der Ausbildung Hilfe zu holen, das muss auch jetzt gelten.
»Solange du deine Beine unter unseren Tisch stellst, bestimmen wir!« Was Generationen von Eltern selbstverständlich erschien (und manchen noch immer erscheint), ist deshalb seit 1980 in Deutschland nicht mehr zulässig.
Darüber hinaus setzten wir uns damals schon seit mehreren Jahren für ein gesetzliches Gewaltverbot in der Familie ein, das wir anlässlich der Sorgerechtsreform verstärkt propagierten. Zunächst hatten wir nur mäßigen Erfolg, sodass wir unser Ziel weiter verfolgen mussten. Erst im Jahr 2000, unter der rot-grünen Bundesregierung, wurde endlich die Gewalt aus der Kindererziehung gesetzlich verbannt. Paragraph 1631, Absatz 2 des BGB lautet seither: Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
Die Vereinten Nationen verabschiedeten 1989 die Kinderrechtskonvention. Sie bestimmt, dass kein Kind wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Staatsbürgerschaft, Religion oder anderer Eigenschaften benachteiligt werden darf. Die Meinung von Kindern muss angehört, respektiert und in Entscheidungen einbezogen werden. Alle Entscheidungen bezüglich eines Kindes müssen vorrangig auf das Kindeswohl abzielen – in der Familie, in der Gesellschaft, auf staatlicher Ebene. Jedes Kind hat ein Recht auf bestmögliche Förderung. Noch viele weitere Gebote und Verbote gibt die UN-Kinderrechtskonvention vor. Mit Ausnahme der USA und Somalias haben alle Staaten die Konvention ratifiziert.
Was in Deutschland bisher nicht geschah: Es wurden keine Grundrechte für Kinder in die Verfassung aufgenommen. Für die Festschreibung von Kinderrechten im Grundgesetz kämpfe ich bis heute – zusammen mit UNICEF, dem Deutschen Kinderschutzbund und der Deutschen Liga für das Kind, bei der ich Kuratoriumsvorsitzende bin, sowie anderen Organisationen. Mehrere deutsche Bundesländer haben Kinderrechte bereits in ihre Verfassungen aufgenommen, der Bund bisher nicht. Im Jahr 2011 stellten die Fraktionen der SPD, Grünen und Linken im Bundestag Anträge auf Stärkung der Kinderrechte in Deutschland. Die Anträge beinhalteten unter anderem die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz. Es gab dazu eine Anhörung, zu der ich geladen war. Die Anträge wurden vom Parlament abgelehnt. Aber die Diskussion ist nicht zu Ende. Im deutschen Grundgesetz verankerte Kinderrechte müssen und werden kommen.
Ebenso überzeugt engagiere ich mich für das Wahlrecht von Geburt an, das im Volksmund so genannte Kinderwahlrecht. Als ich einmal mit einem Bekannten darüber sprach, meinte der: »Kinderwahlrecht? Das hört sich an wie ein Partyknüller!« Ist es aber nicht, sondern ein ernstgemeintes Anliegen. Warum sollen Kinder wählen?, werde ich oft gefragt. Die Frage muss anders lauten: Warum dürfen Kinder nicht wählen? Das Wahlrecht gehört in Deutschland zu den politischen Grundrechten. Jeder Mensch, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, darf wählen.
»Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« So heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes. Das ist Demokratie – abgeleitet vom griechischen demos , »das Volk«. In Artikel 20 des Grundgesetzes ist nicht vom »volljährigen Volk« die Rede. In Artikel 38 heißt es dagegen: »Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.« Die beiden Artikel widersprechen einander. Warum ist ein Siebzehnjähriger nicht wahlberechtigt, wenn er dem Volk angehört und alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht? Wieso der Zwölfjährige nicht, der Fünfjährige nicht?
Wenn zwei Artikel des Grundgesetzes einander widersprechen, muss eine Abwägung stattfinden. Zu fragen ist zum Beispiel: Welcher Artikel hat mehr Wert? Artikel 20 ist Teil einer sogenannten Ewigkeitsgarantie. Solange das Grundgesetz gilt, kann dieser für unsere Demokratie existenzielle Artikel unter keinen Umständen abgeschafft oder geändert werden. Artikel 38 ist eine Vorschrift minderen Gewichts, sie wurde auch bereits geändert. Als die Verfassung 1949 in Kraft trat, begann das Wahlalter mit 21 Jahren, im Jahr 1970 senkte es der Gesetzgeber auf 18. Staatsrechtler argumentieren: Die Wahlberechtigung wurde an die Volljährigkeit geknüpft. Doch das ist nicht zwingend. Warum muss ein Wähler volljährig sein? Man muss volljährig sein, wenn es um Rechtsgeschäfte geht, wenn man einen Vertrag schließen will. Eine
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