Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
vor allem, eine Prognose für die ferne Zukunft zu stellen. Die Entscheidung über das Sorgerecht für die Kinder, die wir trafen, war eine Entscheidung für die kommenden zehn, zwölf oder mehr Jahre, und sie wirkte sich auf das gesamte weitere Leben der Kinder aus. Ich durfte keine Fehler machen, und wenn mir einer unterlief, konnte ich nicht daraus lernen: Es gab ja keine Rückmeldung darüber, wie die Regelung, die das Gericht bestimmt hatte, sich auf das Kind auswirkte. Ich weiß nicht, ob und wie oft ich falsch entschieden habe. Das belastet mich.
Nur ein Mal bekam ich ein Feedback, und zwar durch einen Freund meines Sohnes. Als Rolf mich einmal zusammen mit einem seiner besten Freunde besuchte, sagte der Freund zu mir: »Wir kennen uns, erinnern Sie sich?«
»Nein«, sagte ich, »es tut mir leid, ich glaube nicht, dass ich Sie schon einmal gesehen habe.«
»Doch, sicher kennen Sie mich. Sie haben mich als kleines Kind angehört. Sie waren Richterin am Oberlandesgericht, mein Vater und meine Mutter stritten um das Sorgerecht. Sie trennten meinen Bruder und mich, er wuchs bei unserer Mutter auf, ich beim Vater. Das war genau richtig.«
Vor Einführung des gemeinsamen Sorgerechts trotz Trennung der Eltern erhielten Mütter fast stets das Sorgerecht, die Väter bekamen ein Umgangsrecht alle vierzehn Tage am Wochenende. Beantragte der Vater beispielsweise das Sorgerecht für sich, weil die Mutter ein Alkoholproblem hatte und die Kinder vernachlässigte, folgte daraus häufig, dass die Kinder in eine Pflegefamilie kamen ; denn viele Richter, die weit überwiegend männlichen Geschlechts waren, waren überzeugt: »Der Vater schafft es nicht.«
»Es kann ja sein, dass der Vater seine Kinder liebt, dass er nett zu ihnen ist ; kann ja sein, dass er sich alles Mögliche vornimmt für die Kinder. Aber in der Praxis ist das nicht machbar«, meinten die Richter. »Ich sehe doch zu Hause, was es bedeutet, ein Kind zu erziehen. Die Arbeit, die meine Frau leistet, schafft ein Mann nicht. Schon gar nicht neben dem Beruf. Was, wenn das Kind krank wird? Wohin sollen die Kinder in den Schulferien?« Diese Kollegen trauten Männern grundsätzlich keine Vaterqualitäten zu, sie trauten ihnen die Organisation des Familienalltags nicht zu. Gegen diese Verallgemeinerung, gegen die Diskriminierung von Männern durch Männer setzte ich mich damals wie heute erfolgreich ein.
In meiner Eigenschaft als Familienanwältin habe ich noch immer oft Väter vor mir, die sagen: »Ich habe keine Chance, das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu erhalten.« Nach wie vor gibt es viele Richter und Richterinnen, Jugendamtsmitarbeiterinnen und Kinderpsychologen, die sagen: Ein Kind gehört zur Mutter. Natürlich sagen das auch viele Mütter selbst. Dabei sind dies meist gebildete Menschen, die eigentlich zur Reflexion fähig sein sollten.
Kinder haben ein Recht darauf, dass ihr eigener Wille erforscht wird. Dieses Recht in die Praxis umzusetzen fällt vielen Erwachsenen schwer. Viele Gerichte gehen über den Willen des Kindes hinweg mit der Begründung: Das Kind kann die Situation nicht beurteilen, es ist überfordert, es äußert keinen freien, sondern einen oktroyierten Willen. Seit Jahrzehnten wiederhole ich: Menschen sind beeinflussbar. Der Wille jedes Erwachsenen wurde aller Wahrscheinlichkeit nach unter Beeinflussung durch andere Menschen gebildet. Deshalb kann ich, selbst wenn ein Kind den Willen eines Erwachsenen übernommen hat, nicht so tun, als wäre es nicht sein Wille.
Überhaupt vertrete ich die Ansicht: Wir müssen Kinder an den Entscheidungen, die sie betreffen, so weit mitwirken lassen, wie sie es verstehen. Eine entsprechende Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches hat der Deutsche Juristinnenbund, auch auf meine Initiative, erwirkt. Bis zum 31. Dezember 1979 war das Eltern-Kind-Verhältnis im Bürgerlichen Gesetzbuch gleichbleibend seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1900 geregelt. Es galt ein Über– und Unterordnungsverhältnis, wie man es sich in einer Musterfamilie im Kaiserreich vorgestellt hatte. Die sozial-liberale Koalition war sich einig, dass mehr Demokratie in die Familie einziehen musste. Ein damaliges politisches Schlagwort lautete: »Kinder sollen nicht länger Subjekt elterlicher Fremdbestimmung sein.« Die konservativen Parteien im Bundestag empörten sich und griffen das Vorhaben massiv an.
Damals war ich Erste Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbundes und Vorsitzende der Familienrechtskommission des
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