Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
Juristinnenbundes. Wir formulierten einen eigenen Gesetzentwurf und veröffentlichten ihn 1977 in dem Buch Neues elterliches Sorgerecht: Alternativ-Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge mit Begründung und Stellungnahmen . Ich war Mitherausgeberin des Buches, dessen Kernaussage lautete: Mit zunehmender körperlicher und vor allem seelischer Reife müssen Kinder die Möglichkeit erhalten, an Angelegenheiten mitzuwirken, die sie selbst betreffen. Es ging also um ein langsam steigendes Selbstbestimmungsrecht – etwa in Bezug auf die Wahl der Schule und Berufsausbildung.
Auch die Frage, ab wann ein Jugendlicher bestimmen darf, ob er auszieht, zum Beispiel in eine Jugendwohngruppe, wenn er nicht mehr bei den Eltern wohnen will, sollte unserer Einschätzung nach abhängig von der Reife des Jugendlichen beantwortet werden. Kann man einer Fünfzehnjährigen die Partnerschaft mit einem siebzehnjährigen Jungen verbieten? Bis zu welchem Alter darf man Jugendlichen vorschreiben, was sie in der Freizeit tun und wann sie abends zu Hause sein müssen? Oder: Ab wann können und dürfen Mädchen selbst bestimmen, ob sie eine bestehende Schwangerschaft fortführen oder abbrechen? Auf diese und viele weitere Fragen bezog sich das vom Juristinnenbund entworfene Gesetz.
Der Bundestag veranstaltete eine Anhörung zur Reform des elterlichen Sorgerechts und lud zwölf Sachverständige ein, darunter keine Frauen. Der Deutsche Juristinnenbund schrieb einen Brief an den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages und bat darum, eingeladen zu werden – ohne Erfolg. Daraufhin veranstaltete der Juristinnenbund am Vorabend der Anhörung eine Pressekonferenz in Bonn und präsentierte sein Buch mit dem eigenen Gesetzentwurf. Noch in der Nacht erhielten die Rechtsanwältin Gisela Wild, Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbunds, und ich ein Telegramm mit der Bitte, als Sachverständige im Deutschen Bundestag aufzutreten. Das taten wir, als einzige Frauen.
»Wieso räumen wir Kindern und Jugendlichen nicht die Rechte ein, die sie aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten wahrnehmen können?«, fragte ich die Herren Abgeordneten und die wenigen Damen im Deutschen Parlament. »Es kann dafür keine Begründung geben, außer, dass wir Macht ausüben wollen, dass wir Herrscher über Kinder und Jugendliche sein wollen.« Ich hielt dies, ebenso wie der Deutsche Juristinnenbund, für kein legitimes Ziel.
Seit dem 1. Januar 1980 heißt es nun in Paragraph 1626, Absatz 2 des BGB: Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.
An dieser Formulierung habe ich entscheidend mitgewirkt. Die Aussage ist eindeutig: Es gibt keine Entscheidung mehr über den Kopf der Kinder hinweg. Eltern müssen sich mit ihren Kindern besprechen und versuchen, sich zu einigen.
Auch die folgende Formulierung geht auf den Deutschen Juristinnenbund zurück, Paragraph 1631a BGB vom 1. Januar 1980: In Angelegenheiten der Ausbildung und des Berufs nehmen die Eltern insbesondere auf die Eignung und Neigung des Kindes Rücksicht. Bestehen Zweifel, so soll der Rat eines Lehrers oder einer anderen geeigneten Person eingeholt werden.
Man erwog damals eine andere Formulierung: »In Angelegenheiten der Ausbildung und des Berufs sind die Eltern verpflichtet (…).« Das war vielen zu hart, deshalb schlug ich vor: »(…) nehmen die Eltern Rücksicht«. Der Indikativ der Formulierung deutet an, dass die Rücksicht bereits üblich sei, eine Selbstverständlichkeit sozusagen. Das klang akzeptabel. Auch »Rat einholen« klingt angenehm. So wurde die Vorschrift verabschiedet.
Dieser Paragraph geht zurück auf das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794. Darin gab es eine Vorschrift, nach der ein Kind das Gericht anrufen durfte, wenn die Eltern es in einen Beruf drängten, den das Kind selbst nicht ausüben wollte. Der Deutsche Juristinnenbund argumentierte: Wenn dies vor zweihundert Jahren schon möglich war, muss es heute auch möglich sein. Dabei unterschlugen wir eine klitzekleine Information: dass diese Vorschrift des Preußischen Allgemeinen Landrechts nur für Knaben galt. Unsere Schlussfolgerung fanden die Parlamentarier überzeugend: Schon in Zeiten Friedrichs des
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