Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
bin sehr froh, als Frau geboren zu sein – und ich denke, das Leben als Frau könnte noch schöner sein, wenn es noch gerechter zuginge in der Gesellschaft. Die Behauptung, Kinder gehörten stets zur Mutter, ein Mann könne allein keine Kinder erziehen, hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Wer heute noch so denkt, hat sich mit den Erkenntnissen der auf Kinder spezialisierten soziologischen, psychologischen und medizinischen Wissenschaft nicht hinreichend auseinandergesetzt. Es gibt fabelhafte Mütter und andere, denen die Betreuung und Versorgung ihrer Kinder sehr schwerfällt. Und ganz Ähnliches gilt für Väter, vor allem für jüngere. Das zu erkennen und danach zu handeln, war in den siebziger und achtziger Jahren schwer, schon gar bei der Justiz. Ich rechne es mir als gewisses Verdienst an, dass wir an unserem Senat am Oberlandesgericht schon damals auch für Väter entschieden haben.
Mehr Recht als schlecht
Das Mädchen war fünf oder sechs Jahre alt, nennen wir sie Maren. Ihr wahrer Name war natürlich ein anderer. Maren, eine kleine, zarte, niedliche und aufgeweckte Person. Aber das wusste ich noch nicht, als ich losfuhr, um sie bei ihrer Mutter zu besuchen. Die Eltern hatten sich scheiden lassen, nun stritten sie darum, wo ihre Tochter leben sollte. Die Mutter reklamierte das Mädchen ganz selbstverständlich für sich. Sie arbeitete nur halbtags, hatte eine Eigentumswohnung mit drei Zimmern geerbt und war der Meinung, der Vater sei als Erziehender ungeeignet, zumal er oft bis 18 Uhr arbeitete. Scheinbar sprach alles dafür, dass das Mädchen bei der Mutter lebte. So hatte das Familiengericht es in erster Instanz auch entschieden. Der Vater hatte Beschwerde eingelegt, er wollte, dass Maren bei ihm lebe. Nun landete der Fall bei mir, beim Oberlandesgericht. Ich war als Richterin zuständig.
Selbstverständlich hörte ich das Kind an, seit 1977 war das vorgeschrieben, und ich war der Überzeugung, ein Kind könne selbst gut einschätzen, wo es sich wohler fühlt und besser zu seinem Recht kommt, bei der Mutter oder beim Vater. Ich hatte mir angewöhnt, jedes Kind in seinem alltäglichen Umfeld anzuhören, wenn nötig drei Mal: einmal bei der Mutter zu Hause, einmal beim Vater, einmal auf neutralem Grund, zum Beispiel in der Kita. Hätte ich das Kind nur bei einem Elternteil besucht, hätte es womöglich gesagt, was seiner Vermutung nach der dort wohnende Elternteil hören wollte. Auch wenn die Eltern im Nebenzimmer gewesen wären, hätte ihre Anwesenheit das Kind vielleicht beeinflusst.
Ich kam immer unangemeldet, was dazu führen konnte, dass ich vor verschlossener Tür stand oder nicht hineingelassen wurde. Das Risiko ging ich ein, um das Kind zu entlasten. Hätte ich Termine vereinbart, hätten die Eltern ihr Kind auf meinen Besuch vorbereitet. Auch wenn sie nur erklärt hätten: »Da kommt eine Frau und will mit dir über Mama und Papa sprechen«, wäre das für ein Kind schwer auszuhalten gewesen. Schon allein wenn Eltern nervös sind – und jeder ist nervös, wenn sich eine Richterin ankündigt –, überträgt sich die Nervosität wahrscheinlich auf ihr Kind.
Die kleine Maren besuchte ich zuerst bei ihrer Mutter, bis dahin kannte ich die Familie nur aus den Akten. An einem frühen Abend fuhr ich vom Gericht zu dem Haus, in dem Maren und ihre Mutter im dritten Stock wohnten. Schon im Treppenhaus hörte ich ein Kind laut weinen und schreien. Oben angekommen, klingelte ich, das Gebrüll setzte kurz aus, um sodann fortgesetzt zu werden. Die Mutter öffnete die Tür, ich stellte mich kurz vor, entschuldigte mich dafür, dass ich unangemeldet kam, ich sei zufällig gerade in der Gegend. »Kommen Sie ruhig herein«, sagte die Mutter, »Sie kommen gerade richtig. Maren ist wieder einmal dermaßen ungezogen, es ist nicht zu fassen!« Der Mutter war ihre erhöhte Pulsfrequenz anzuhören und anzusehen, ihre Begrüßungsworte nahm ich schweigend hin. Die Mutter zeigte mir, hinter welcher Zimmertür sich ihre Tochter befand. Sie kam nicht mit zu dem Kind.
Ich öffnete die Tür, die kleine Maren saß auf einer schmalen Fensterbank und heulte wie ein Schlosshund. »Hallo, Maren, da bist du ja, das ist schön«, sagte ich in ruhigem Ton. »Ich würde dich so gern kennenlernen, aber ich kann dich nicht verstehen, wenn du so furchtbar weinen musst. Vielleicht musst du einen Augenblick nicht weinen?« Sie hörte sofort auf. »Ich heiße Frau Peschel-Gutzeit, und ich bin Richterin. Du weißt zwar nicht, was eine
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