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ich mich nicht mehr so tollkühn wie nachts und fragte mich, ob es nicht besser gewesen wäre, vorsichtiger zu sein. Denn auch wenn ich Maxons Ohrzupfen nicht beantwortet hatte, konnte er mich doch jederzeit in meinem Zimmer besuchen kommen. Wenn er uns nun ertappt hätte? Und vielleicht war Aspen tatsächlich ertappt worden, und ich wusste es noch nicht?
Es war Samstag; wir sollten uns eigentlich im Damensalon aufhalten, aber dazu fühlte ich mich außerstande. Ich fürchtete, dass die anderen mir meine Sünden vom Gesicht ablesen konnten. Und anvertrauen konnte ich mich erst recht niemandem. Wenn irgendwer dahinterkommen würde, vor allem Celeste?…
Das, was ich gestern Nacht getan hatte, war Hochverrat. Dafür gab es nur eine Strafe.
Ich beschloss, Kopfschmerzen vorzutäuschen, und legte mich ins Bett. Meine Zofen schlichen auf Zehenspitzen durchs Zimmer.
Nachmittags brachte Mary mir eine Karte von Maxon. Er fragte an, ob er mich besuchen könne. Meine Wut vom Vorabend war verflogen und hatte drückenden Schuldgefühlen Platz gemacht. Mir war ganz übel. Ich bat Mary, Maxon auszurichten, dass ich ihn nicht empfangen könne.
Trotz meines Schlafmangels von der Nacht zuvor konnte ich abends jedoch wieder kein Auge zutun. Anne ließ das Abendessen aufs Zimmer bringen, und als ich gegessen hatte, nahmen meine Zofen das Tablett mit und zogen sich zurück.
Erst dann gestattete ich es mir, zu weinen.
Mitten in der Nacht wachte ich auf, weil Anne mich an den Schultern rüttelte.
»Was –?«
»Bitte, Miss, Sie müssen aufstehen!« Ihre Stimme klang verängstigt.
»Was ist los? Sind Sie verletzt?«
»Nein, nein. Wir müssen Sie in den Keller bringen. Ein Angriff.«
Ich war so erschöpft, dass ich nicht sicher war, ob ich sie richtig verstanden hatte. Doch hinter ihr hörte ich Lucy weinen.
»Sie sind im Palast?«, fragte ich fassungslos.
Lucys verängstigtes Schluchzen war Antwort genug.
»Was sollen wir tun?«, fragte ich. Ich war jetzt schlagartig wach und sprang aus dem Bett. Mary schob mir Schuhe an die Füße, Anne half mir in einen Morgenmantel. Ich konnte nur denken: Norden oder Süden? Norden oder Süden?
»Draußen gibt es einen Geheimgang, durch den Sie in einen Raum in den Keller kommen, wo die Wachen Sie erwarten. Die Königsfamilie ist sicher schon da und die meisten Mädchen wohl auch. Beeilen Sie sich, Miss!« Anne zog mich in den Flur hinaus und drückte gegen eine Stelle an der Wand, die sich daraufhin zu drehen begann. Und tatsächlich befand sich dahinter eine Treppe, wie in einem Abenteuerroman. Während ich dastand, kam Tiny aus ihrem Zimmer gerannt und lief vor mir die Treppe hinunter.
»Also los«, sagte ich. Anne und Mary starrten mich fassungslos an. Lucy zitterte so heftig, dass sie kaum noch stehen konnte. »Los doch«, drängte ich.
»Nein, Miss. Wir gehen woandershin. Sie müssen sich beeilen, bitte!«
Ich wusste, dass die drei im besten Fall verletzt, im schlimmsten Fall tot enden würden, wenn man sie entdeckte. Die Vorstellung fand ich unerträglich. Der Gedanke war vielleicht etwas dreist, aber Maxon hatte sich ja bislang sehr bemüht gezeigt, wenn ich ihn auf Missstände hingewiesen hatte. Vielleicht konnte ich ihm auch meine drei Zofen ans Herz legen, weil sie mir wichtig waren. Selbst wenn Maxon und ich uns gerade gestritten hatten. Möglicherweise war seine Großzügigkeit damit überbeansprucht, aber ich würde die drei unter keinen Umständen zurücklassen. Die Angst trieb mich an. Ich packte Anne am Arm und schob sie in den Gang. Sie stolperte und konnte mich deshalb nicht davon abhalten, auch noch Mary und Lucy durch die Geheimtür zu drängen.
»Schnell, runter!«, befahl ich den dreien.
Sie setzten sich in Bewegung, aber Anne protestierte die ganze Zeit. »Sie werden uns nicht reinlassen, Miss! Dieser Raum ist ausschließlich für die königliche Familie bestimmt … man wird uns wegschicken!« Aber ich beachtete Annes Einwände nicht. Das für die Zofen vorgesehene Versteck war bestimmt nicht so sicher wie das der Königsfamilie.
In wenigen Metern Abstand gab es Leuchten an der Treppe, aber ich wäre in der Hast mehrmals fast gestürzt. Ich war kopflos vor Sorge. Wie weit waren die Rebellen früher ins Palastinnere vorgedrungen? Kannten sie diese Geheimgänge? Lucy war schon halb gelähmt vor Angst, und ich musste sie hinter mir herziehen, damit sie den Anschluss nicht verlor.
Ich wusste nicht, wie lange wir für den Abstieg brauchten, aber schließlich
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