Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
nennen, eher einige mit Absendern versehene Aufforderungen, ein paar Euro von A nach B zu verschieben. Damals hatte einer aus dem Dorf in einem Fernsehquiz ziemlich abgesahnt und erhielt dann von seinen Nachbarn freundliche Briefe, in denen ihm versichert wurde, niemand würde über seinen Gewinn reden, wenn er ein paar Scheine rüberwachsen ließe. Wir sind eher zufällig darauf gestoßen. Nein, das war keine Erpressung. Für mich war das eher ein Witz. Außerdem gab es keine Strafanzeige, und die Gewinnerfamilie ist kurz darauf weggezogen.«
»Und was ist, wenn sich unsere Gertraud als Erpresserin erweist?« Er sah sie herausfordernd an.
Sie schüttelte den Kopf. »Glaub mir, da war eine derart abgrundtiefe Trauer. Die hat den wirklich geliebt. Die wollte mit ihm glücklich sein. Nichts anderes. Was wir halt alle wollen. Unsere kleine heile und geschützte Welt, bestehend aus Vater, Mutter, Kind.«
»Dabei wissen wir alle, dass es die nicht gibt«, murmelte Bruno und steckte sich endlich die Zigarette in den Mund, mit der er schon die ganze Zeit gespielt hatte. »Ich geh mal kurz rauchen. Bis gleich.«
Ägidius Alberti bestrich sich gerade zwei Scheiben Vollkornbrot dick mit Butter und Camembert und legte sie zu einem Doppeldecker zusammen, als Martha zu ihm an den Tisch trat und demütig von ihrem Gast wissen wollte: »Wie darf ich Sie denn anreden?«
»Wie ich’s mit Ihrem Bruder besprochen habe«, antwortete der junge Priester wortkarg, und Martha verspürte so was wie Empörung in sich heranwachsen. Dachte der etwa, sie hätte das Frühstücksgespräch der beiden Herren belauscht? Sie schluckte ihre Entrüstung herunter. Außerdem: So leise, wie die zwei miteinander gesprochen hatten, war es unmöglich gewesen, auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Und sie würde jede Wette eingehen, dass ihr Bruder absichtlich in diesen Flüsterton verfallen war.
»Wie Sie wissen, bin ich Mitglied eines Ordens, und alle Ordensmitglieder reden sich mit ›Bruder‹ an. Nennen Sie mich einfach Bruder Ägidius.«
»Wie Sie wünschen.« Das sollte ein wenig von oben herab klingen, aber sie wusste nicht genau, ob sie den richtigen Ton getroffen hatte. Dieser Bruder Ägidius jedenfalls ließ sich nichts anmerken und erhob sich mit gemessenen Bewegungen vom Frühstückstisch.
Fast hätte sie ihm nachgerufen: »Sie gehen nun sicher in Ihr Zimmer, um zu beten?«, verzichtete aber lieber – denn wenn er darauf geantwortet hätte, wäre sein Wortkontingent möglicherweise schon zur Unzeit geschrumpft.
Eigentlich, dachte sie später bei der Hausarbeit, wäre es gar nicht so schlecht, wenn jedem Menschen pro Tag nur eine bestimmte Menge an Worten zur Verfügung stünde. Seelsorger, beispielsweise wie ihr Bruder, oder Lehrer, wie der alte Blumentritt von schräg gegenüber, brauchten naturgemäß mehr Worte als so nichtsnutzige Personen wie die Wirtin vom Blauen Vogel. Dass Bruder Ägidius deren Rindsrouladen gelobt hatte, würde sie weder der Schachner Teres noch dem Koch des Landgasthofs verzeihen.
Wenn man tatsächlich sparsam sein müsste mit dem, was man sagte, würden dann womöglich klügere Gespräche geführt? Sicher gäb’s dann weniger Telefone und vielleicht gar keine Handys. Leider konnte sie diesen interessanten Gedanken nicht zu Ende führen, denn ihr Gast war die Treppe heruntergekommen und klopfte an die geöffnete Tür.
»Bruder Ägidius, wir machen heute eine Besichtigungstour zu den Wirkungsstätten der Harbinger Agnes«, erklärte sie. »Ziehen Sie sich am besten bequeme Schuhe an, denn heute gehen wir erst einmal zu Fuß.«
Der junge Mann nickte ergeben.
Während des kurzen Wegs zum Friedhof sprach sie pausenlos auf ihn ein, um ihn nicht in Versuchung zu bringen, etwas sagen zu müssen und so kostbare Teile seines Wortkontingents zu verschwenden.
»Wissen Sie, Bruder Ägidius, es ist inzwischen so, dass fast alle hier bei uns auf dem Land schon die Wundertätigkeit der Agnes am eigenen Leibe erfahren haben. Deswegen dürfen Sie nicht erschreckt sein über das Aussehen von dem Grab da. Sodala, da wären wir auch schon!« Schwungvoll öffnete sie das Friedhofstor und eilte ihm im Stechschritt voraus.
Die letzte Ruhestätte der Harbinger Agnes war übersät mit frischen Blumen und einer Vielzahl pastellfarbener Briefchen. Auf der steinernen Grabumfassung standen mehrere Dutzend dunkelblauer Kerzen, von denen einige brannten.
»Sagen Sie jetzt nichts, Bruder Ägidius«, raunte Martha ihrem Begleiter
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