Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
kleines und spitzes Gesicht und ein fliehendes Kinn und eine solchene Nasen.« Sie legte den Kopf in den Nacken und verlängerte mit dem Zeigefinger den Schwung ihrer Nase, als ginge es darum, einen liegenden Halbmond zu beschreiben. »Vermutlich holt sich die Selma deshalb den Waldmoser ins Bett, um ihre Nachkommen ein wenig attraktiver werden zu lassen. Die Tante Lotti sagt jedes Mal, wenn sie das Waldmoser-Bürscherl sieht: Das kann nicht der Sohn vom Bürgermeister sein. Dazu ist er zu schön und zu klug.«
Sie seufzte und griff nach ihrer Jacke. »Aber was weiß ich. Dann fahren wir also jetzt in seine Wohnung?«
Franziska nickte. »Es ist eine Dreizimmerwohnung. Den Wohnraum haben wir allerdings versiegeln lassen. Da muss die Spurensicherung noch mal rein. Wir sind uns nicht sicher, ob sich da nicht doch ein Fremder aufgehalten hat. Aber alle anderen Räume stehen Ihnen zur Verfügung.«
»Sie glauben also, dass der Mensch, der ihm das angetan hat, auch in seiner Wohnung war?«
Franziska hob die Schultern. »Wir schließen nichts aus.«
Vermutlich war die kleine schmallippige Frau gerade einkaufen oder bejammerte mit ihren Freundinnen den Verlust eines solventen Mieters, denn als die Kommissarin mit ihrer Begleiterin die Haustür aufschloss, kam niemand aus der unteren Wohnung hervorgeschossen.
Schweigend gingen sie die Treppe hoch. Erst jetzt registrierte Franziska, dass Gertraud ganz in Schwarz gekleidet war: von den Schuhen bis zu dem Band, mit dem sie sich die Haare hochgebunden hatte. Jeder, der sie sah, würde ihr sofort den frischen Witwenstand abnehmen.
»Haben Sie hier aufgeräumt?«, wollte Gertraud wissen, als sie im Flur der Hellmannschen Wohnung standen.
»Nein, weder wir noch die Vermieterin. Wir haben alles genau so vorgefunden. Günther Hellmann scheint ein sehr ordentlicher und vor allem gut durchorganisierter Mann gewesen zu sein.«
»Ja.« Gertraud putzte sich die Nase. »Eulalia und ich, wir hätten es sicher gut bei ihm gehabt.«
Sie ging ins Arbeitszimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Er hat so viel gearbeitet und so wenig gelebt. Und jetzt darf er gar nicht mehr leben. Scheiße!«, schrie sie plötzlich und hieb mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Franziska lehnte sich in die Türöffnung und wartete. Sie sah sich selbst wieder, damals, als Jochen erschossen worden war. Sie hatte genauso geflucht, gejammert und getobt. »Lassen Sie es raus«, sagte sie zu Gertraud. »Schreien Sie einfach drauflos.«
Eigenartigerweise schienen gerade diese Sätze Gertraud zu beruhigen. »Es hilft ja nichts. Was meinen Sie, wie ich schreien würd, wenn ich ihn damit zurückbekäm! Alles würd ich tun. Alles. Aber das Weinen tut gut. Vor dem Kind reiß ich mich halt immer zusammen.«
Neugierig drehte sie die Adresskärtchen der Rollkartei. Viele waren es nicht.
»Wir haben schon einen Blick darauf geworfen«, sagte Franziska. »Es sieht so aus, als seien das seine privaten Kontakte gewesen. Diese Personen sollten über die Trauerfeier informiert werden.«
Gertraud nickte und blätterte weiter bis zum H. Dort entdeckte sie ihren Namen, Halber Gertraud, die Kleinöder Adresse und ihre Handynummer. Das Kärtchen war mit einem roten Herz umrahmt. Hektisch wandte sie ein Blatt nach dem anderen um, doch ihr Name war der einzige, der so geschmückt war. »Ich war sein Ein und Alles«, stellte sie fest und schluckte.
Erst gegen vierzehn Uhr kehrte Franziska in ihr Büro zurück. Gertraud war wieder heimgefahren. Sie hatte die Rolodex von Günthers Schreibtisch eingepackt und einen dicken dunkelroten Pullover aus seinem Kleiderschrank genommen. »Der riecht nach ihm«, war ihre Begründung gewesen. »Wenn ich den trage, ist es so, als wär er ganz nah bei mir. Als würd er mich festhalten. Er wird in Kleinöd beerdigt werden. Da hat er sich wohlgefühlt. Da sind Eulalia und ich. Da ist er jetzt daheim. Ich werd mit dem Moosthenninger reden. Er soll die Beisetzung auf Samstag legen. Samstags haben die meisten Leute Zeit. Kommen Sie auch?«
Die Kommissarin nickte. »Ich werd’s versuchen.«
Bruno machte sich gerade einen Cappuccino und unterhielt sich angeregt mit einer rundlichen, etwa siebzigjährigen rotwangigen und grauhaarigen Frau, die aussah, als habe sie in einem Märchenspiel die Rolle der guten Großmutter übernommen.
»Da ist sie ja!«, rief er erfreut, als Franziska die Tür öffnete und wollte gleich wissen: »Magst auch einen
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