Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
sich einen Bleistift hinters Ohr und zog die Stirn kraus. »Stell dir doch mal vor, da käme jemand zu dir oder zu deinen Verwandten, würde seinen Laptop aufklappen, das wunderbare Wort ›Kleinschmidt‹ eintippen, und du siehst plötzlich fremde Menschen, die mit dir verwandt sein sollen und außerdem lauter Linien definitiver und möglicher Blutsverwandter fragwürdiger Herkunft …«
»Ja und? Das wär mir egal. Bei mir ist eh nix zu holen. Aber stimmt schon, wenn ich Haus und Hof hätte und nach einem Erben suchen würde – oder aber ich hätte den Neffen X als einzigen Erben, wär aber mit dem nicht glücklich, weil ich wüsste, dass der alles gegen die Wand fährt … Und dann präsentiert mir der Herr Dr. Hellmann den Supervorzeigeneffen Y … Ja, das könnte schon zu Konflikten führen. Vor allem Erbe X fände das garantiert suboptimal.«
»Die Frage ist nur, warum will Erbe X den Stammbaumforscher aus dem Weg haben? Einen wirklichen Gewinn hätte er doch nur, wenn Y von der Bildfläche verschwände. Oder?«
»Und was ist, wenn nur X von Y weiß und befürchtet, dass der Stammbaumforscher demnächst mit diesem Wissen hausieren geht?«
»Das wär’s: Dann wäre X der Unbekannte in unserer Gleichung. Wie in der Mathematik.« Franziska seufzte. »Ich hab hier eine Liste von Kandidaten, die wir uns mal genauer ansehen sollten. Würdest du das übernehmen? Ich muss mit meiner Zeugin in die Gerichtsmedizin.« Sie legte ihm den Ausdruck des frisch gelieferten Manuskripts auf den Tisch.
Er nickte. »Mach ich. Hast du eigentlich schon die Vollmachten von diesem Edwin Hellmann? Darum ging es doch in dem Gespräch mit der Halber, oder?«
»Du wirst es nicht glauben. Ich hab Gertrauds Namen und Geburtsdatum durchgegeben, und bereits eine halbe Stunde später stand der Kurier in der Zentrale. Alles bestens.« Sie hielt einen Umschlag hoch.
»Dann bleib ich heute im Büro und am Rechner?« vergewisserte Bruno sich, und sie sah ihm an, dass ihm diese Arbeitsteilung besonders gelegen kam.
»Ja, das wäre gut. Such mir doch bitte auch die Adressen und Telefonnummern von den Leuten raus, die auf der Liste stehen.«
Sie war mit dem Auto gefahren und hatte sich extra viel Zeit genommen. Sie ahnte, dass sie schon sehr bald das Unabweisliche seines Todes akzeptieren müsste. So lange sie seinen aufgebahrten Leichnam nicht gesehen hatte, konnte sie sich in einem letzten und verborgenen Winkel ihres Herzens noch vorstellen, dass das alles nicht wahr wäre, dass er nur schwer verwundet in der Einfahrt gelegen hätte, dass die Wunde verheilt wäre und er in diesem Augenblick neben ihr sitzen und mit ihr sprechen könnte.
Sie wäre so gern ein Teil seiner Ahnentafel geworden, gestand sie ihm, hätte sich und Eulalia in seinen Stammbaum integriert und denselben zum Blühen gebracht. Einen würdevollen Abschied versprach sie ihm, bei dem es seinen Freunden an nichts mangeln solle.
Freunde? Mit Erschrecken wurde ihr klar, dass sie keinen einzigen seiner Freunde kannte, ebenso, wie er niemanden aus ihrem Bekanntenkreis kennengelernt hatte. »Wir waren uns selbst genug«, flüsterte sie und spürte erneut den barbarischen Verlust. Nie wieder würde sie jemandem so nah sein können wie ihm. Jetzt war sie gewarnt. Es tat einfach zu weh, und sie wusste, noch so einen Schmerz würde sie nicht überleben.
Um genau zehn nach elf an diesem Vormittag stellte sie ihren Wagen vor der Landauer Polizeistation ab.
»Ich brauche nur ein Ja oder Nein von Ihnen. Ist das Günther Hellmann?«
Gustav Wiener zog das hellgrüne Tuch zur Seite, damit Gertraud einen Blick auf das Gesicht des Verstorbenen werfen konnte. Sie nickte und schluckte. Der Rechtsmediziner deckte den Leichnam so langsam und vorsichtig wieder zu, als habe er Angst, ihn zu wecken.
Die beiden Frauen verließen den weiß gekachelten Raum im Untergeschoss des Krankenhauses. An der Türschwelle drehte Gertraud sich noch einmal um. »Seine Nase ist so spitz, und er ist so furchtbar blass«, murmelte sie und sah Franziska fragend an. »Aber das ist er. Oder muss ich jetzt sagen, das war er? Er liegt so da, als würde er etwas Schönes träumen.« Ihre Augen waren rot und entzündet.
Franziska hätte gern Gertrauds Hand genommen oder ein Wort des Trostes gesagt. Aber es ging nicht. Sie fühlte sich selbst wie gelähmt.
Schweigend ging sie mit der jungen Frau über das Krankenhausgelände. Zwei Eichhörnchen spielten in den Grünanlagen der Klinik Verfolgungsjagd. Ihr
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