Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
legte es neben ihr lilafarbenes Notizheft und holte eine Flasche Wein aus der Kredenz.
»Wir brechen miteinander das Brot und trinken den Wein, denn dies ist ein Akt, in dem wir uns zusammentun zur Seligsprechung unserer Agnes«, stellte sie dann klar und entkorkte die Flasche.
»Da bin ich mir nicht sicher«, sagte der Abgesandte des Bischofs und griff zu seinem Glas. »Aber Wein trink ich gern.«
Mit offenem Mund starrte sie ihn an.
»Sie meinen also, dass das alles noch keine Wunder sind? Für Sie ist das alles ganz normal, alltäglich sozusagen?«
Er zögerte kurz, vermutlich suchte er nach der bündigsten aller Formulierungen. »Es genügt nicht«, diagnostizierte er schließlich und nahm einen kräftigen Schluck Rotwein.
Sie blätterte ihr Notizbuch vor ihm auf, hielt es ihm demonstrativ unter die Nase: Fast hundert eng beschriebene Seiten mit den unterschiedlichsten Noten versehen. »Das alles genügt nicht?«
Halb nickte er, halb schüttelte er mit dem Kopf.
Fassungslos ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen und griff nach dem Glas. Sollten all ihre Anstrengungen umsonst gewesen sein?
»Und die Quelle?« Ihre Stimme klang fast flehend.
Mit einem angedeuteten Lächeln zog er die Stirn kraus und seufzte. Möglicherweise hieß das »vielleicht«. Aber sie wusste es nicht und spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen.
Das brauchte er nun wirklich nicht zu sehen. Sie trat ans Fenster, wandte ihm den Rücken zu und putzte sich ausgiebig die Nase. Die Kirche und das Gasthaus waren angestrahlt. Zwei Baudenkmäler. Sankt Konrad und der Blaue Vogel. Und mit einem Mal wusste sie, wie sie ihn überzeugen konnte, und schöpfte wieder Hoffnung. Es gab ja immer noch den anschaulichsten aller Beweise. An den hätte sie fast nicht mehr gedacht. Und sie erkannte: Es war Agnes, die ihr in diesem Augenblick die richtige Eingebung geschickt hatte.
Nach dem Gang durch die Stadt hatte Gertraud lange in Günthers Bad gestanden und sich in seinem Spiegel betrachtet. Dieser Spiegel hatte ihr Gesicht noch nie zuvor gesehen, und nie wieder würde er Günthers Gesicht sehen können. Gertraud fragte sich, warum Spiegel kein Gedächtnis hatten. Ginge es nach ihr, so müssten sie alle Gesichter, alle Grimassen, alle Bilder, die jemals in sie hineingehalten und ihnen zu irgendeiner Zeit präsentiert worden waren, speichern und abrufbar machen. Wäre es so, könnte sie immer wieder Günthers Gesicht sehen, Günther beim Rasieren, beim Zähneputzen, beim Haare kämmen. Günther, wie er sich anlächelt, wenn er ihren Namen nennt. Gertraud . Niemand sonst konnte diese zwei Silben so wunderbar vertraut aussprechen. Alles wäre um so viel einfacher, wäre jeder Spiegel auch ein Speichermedium.
Ob der, der hier eingebrochen war und vermutlich auch mit dem Gewehr auf Günther geschossen hatte, ebenfalls im Bad gewesen war? Gertraud glaubte, fremde Schwingungen in der Luft zu spüren. Sie fror. Der Spiegel zeigte nur ihr eigenes blasses Gesicht mit den rotgeränderten Augen.
Das Wohnzimmer war, wie Frau Hausmann ihr erzählt hatte, noch versiegelt. Blaubarts Zimmer, dachte Gertraud. Ob der Einbrecher das Gemälde des Gläsernen Vilstals von der Wand gerissen hatte? Günthers Lebenswerk! Zerstört und zerstückelt, so wie Blaubart das mit seinen Frauen getan hatte? Ob die Kommissarin sie nur schonen wollte? Gertraud versuchte, durchs Schlüsselloch zu blicken. Sie entdeckte einen leeren Raum, keine Verwüstung, keine Papierfetzen auf dem Boden, keinen Tisch und keinen Stuhl.
Er hatte ihr viel zu wenig von seiner Arbeit erzählt. Wie oft hatte sie nachgefragt und Interesse gezeigt. Aber er hatte dann gelächelt und sich hinter geheimnisvollen Andeutungen verschanzt. Ja, auch hier, auch in Kleinöd, müsse er noch einige Dinge zu Ende recherchieren. Sie hatte wissen wollen, was und bei wem. Aber das wollte er nicht sagen, sie aber durfte raten. Was für ein Ratespiel! Es hatte ihr Spaß gemacht, denn sie hatte Heimvorteil. So viele Namen mit Stammbaumoptionen gab es ja nicht in Kleinöd.
Also zählte sie auf: Blumentritt, Langrieger, Schmiedinger. Beim Wort Daxhuber hatte er geschluckt, und auch beim Namen Waldmoser, aber als sie weiter nachhakte, verschloss er ihr den Mund mit einem Kuss.
Bis eben gerade hatte sie seinen Nachlass geordnet. Sein Leben war genauso gläsern wie das Gläserne Vilstal, an dem er gearbeitet hatte. Alles war nachprüfbar, und alles war dokumentiert und in all seiner Vielfältigkeit auf eine gespenstische
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