Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
Art banal. Sie fand den Ordner mit den Abrechnungen seiner Ahnenforschung. Die Forderungen waren ordentlich durchnummeriert, der Mehrwertsteuersatz ausgewiesen. Keine der Abrechnungen war so hoch, dass sie für Ärger hätten sorgen können. Kopfschüttelnd hatte sie gedacht: Sobald wir verheiratet sind, werd ich dafür sorgen, dass er seinen Stundensatz erhöht, das macht er viel zu billig, der Mann. Mit einem Mal war ihr wieder eingefallen, warum sie hier und jetzt in seiner Wohnung war. Es gab keinen Günther mehr, und sie würden nicht heiraten. Da musste sie erneut weinen.
Sein Laptop war verschwunden. Sie suchte ihn überall. Erst als sie den Verlust der Kommissarin melden wollte, erinnerte sie sich, dass irgendjemand gesagt hatte, der Computer sei noch in der kriminaltechnischen Untersuchung. Sie würde ihn bekommen, sobald die Datenanalyse abgeschlossen sei.
Charlotte Rücker schlich durchs Haus und warf besorgte Blicke auf ihre am glänzend polierten Rosenholzschreibtisch sitzende Nichte. »Jetzt warst schon den ganzen Nachmittag in der Stadt«, sagte sie schließlich. »Willst du dich nicht ein bisserl ausruhen?«
»Nein«, sagte Gertraud einsilbig und öffnete den Karton mit den schwarz umrandeten Briefumschlägen. Sie nahm einen heraus und prüfte, ob die dazugehörige Karte hineinpasste. Perfekt. Aber es freute sie nicht.
Als Mitarbeiterin des Landauer Anzeigers wurde sie bevorzugt behandelt und hatte schon heute die Traueranzeigen aus der Druckerei abholen können. Dreiundvierzig Stück hatte sie auflegen lassen. Eine für jedes seiner viel zu wenigen Lebensjahre.
»Die Kleine schläft noch ein wenig vor dem Abendbrot«, sagte Charlotte und verlieh ihrer Stimme einen besonders fürsorglichen Klang. »Soll ich dir vielleicht doch ein bisschen helfen?«
Gertraud füllte schwarze Tintenpatronen in ihren Mont Blanc, mit dem sie eigentlich die Einladungen zu ihrer Hochzeit hatte unterschreiben wollen. »Nein, das muss ich alleine machen.«
Die Tante holte tief Luft. »Aber du kennst die doch gar nicht, die du da einlädst. Wildfremde Leute.«
»Lotti. Sie kannten Günther«, belehrte Gertraud sie. »Es sind seine Freunde.«
Charlotte Rücker schob sich die Brille zurecht. »Bist du dir sicher?«
Gertraud nickte trotzig. »Ja.« Aber ganz sicher war sie sich nicht. Dazu kannte sie Günther zu wenig. Sie hatten ihn nie im Alltag erlebt. Was sie miteinander geteilt hatten, waren Wochenenden, Sonn- und Feiertage. Nur die Sahnehäubchen des Lebens. Einmal eine Woche Wanderurlaub auf Madeira. Ohne Kind. Er war ein Sonntagsmann. Genau, so würde sie es ihrer Tochter sagen, wenn Eulalia-Sophie jemals nach dem »netten Onkel« fragen sollte.
Jetzt aber fragte sie sich, ob Günther jemand war, der die Adresskärtchen jener, mit denen er nichts mehr zu tun haben wollte, einfach wegwarf? Oder hatte er womöglich irgendwo noch eine kleine Schachtel mit den Visitenkarten ausgemusterter Freunde? Gertraud hatte nichts dergleichen gefunden, und sie hatten nie über seine Freunde gesprochen.
Sie hatte beschlossen, alle einzuladen. Es waren eh nicht so viele, die nach Privatkontakten aussahen.
»Was wissen wir schon von denen, die wir lieben?«, merkte die Tante nun kryptisch an.
Gertraud schrieb unbeirrt weiter. Charlotte wich nicht von ihrer Seite.
»Wenn tatsächlich ein Feind dabei sein sollte, dann ist spätestens jetzt der Augenblick der Versöhnung gekommen«, merkte Gertraud weise an und klebte eine Briefmarke auf den noch tintenfeuchten Briefumschlag.
»Aber einer muss ihn so sehr gehasst haben, dass er ihn getötet hat«, warf Lotti besorgt ein. »Dass du den bloß nicht einlädst, auch nicht aus Versehen. Stell dir vor, der kommt und entführt dein Kind. Ich will gar nicht daran denken!«
»Jetzt mach sie doch nicht völlig verrückt«, mischte Bernhard Döhring sich ein – er, der sonst nie etwas sagte. Erstaunt hob Gertraud den Kopf.
»Der Bruder zahlt die Beerdigung«, fuhr der Baulöwe fort. »Und der soll uns nicht so billig davonkommen. Ich habe mir alle seine Verfügungen und Überschreibungen angesehen. Die Verträge sind bombensicher. Und wenn der sich aus dieser Sache heraushalten will, dann soll er dafür zahlen. Lad ruhig alle ein, Gertraud, und berechne am besten noch einen Stundenlohn. Freikaufen will der sich, der Hund. Und das soll ihn teuer zu stehen kommen.«
»Jessas nein!« Tante Charlotte studierte die Traueranzeige und schnappte nach Luft. »Der Bruder zahlt alles, und du
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