Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
des Abteilungschefs. In Sagene war eine Sparkasse überfallen worden. Alle sollten sofort in den Besprechungsraum kommen. Blitzschnell riß sie Motorradhelm und Lederjacke an sich.
Fast hätte sie es nicht geschafft. Nur anderthalb Meter vor der befreienden Tür zum Treppenhaus wurde sie am Kragen gepackt. Der Abteilungschef lachte, als sie sich beschämt umsah.
»Versuch nie, einen alten Schlaukopf auszutricksen«, sagte er. »Mach, daß du ins Besprechungszimmer kommst.«
»Nein, wirklich«, sagte sie. »Ich muß los. Außerdem habe ich im Moment so viel am Hals, daß ich euch überhaupt nicht helfen kann. Wirklich. Ganz ehrlich. Ich kann mir einfach nicht noch mehr aufladen.«
Vermutlich lag es an ihrer Stimme. Vermutlich war die Tatsache, daß sie zweifellos seine beste Ermittlerin war, von einer gewissen Bedeutung. Vielleicht lag es auch an ihren ungewöhnlich müden Gesichtszügen, an den deutlichen blauen Ringen unter den Augen und der wenig kleidsamen Schärfe ihres Profils. Egal warum, der Abteilungschef stand einen Moment offenbar unentschlossen vor ihr.
»Okay«, sagte er schließlich. »Ab mit dir. Aber laß das nicht zur Gewohnheit werden!«
Unendlich erleichtert rannte sie zur Tür. Wohin sie wollte, wußte sie nicht. Sie mußte einfach weg von hier.
Im Grunde war wohl alles gleich gut. Ein Tatort konnte gar nicht oft genug besichtigt werden. Immerhin brachte es ihr das Gefühl, etwas Konkretes zu unternehmen.
In der Eingangstür wären sie fast zusammengestoßen. Sie fischte gerade ihre Schlüssel aus der Jackentasche, er kam aus dem Treppenhaus gestürzt. Hanne Wilhelmsen mußte einen Schritt zurückweichen, um nicht umzufallen. Der riesige Mann dagegen geriet nicht ins Wanken. Er entschuldigte sich gerade überschwenglich, als er sie erkannte.
Der Zahnarzt war zu alt, um rot zu werden. Außerdem hatte er eine grobe, unrasierte Haut, die wohl gar keine Röte durchgelassen hätte. Aber Hanne Wilhelmsen registrierte doch ein leichtes Flackern in seinem Blick, als er rasch die Erklärung servierte, er habe etwas aus der Wohnung seiner Tochter holen wollen. Und dann fiel ihm auf, daß er mit leeren Händen dastand.
»Es war aber leider nicht da«, erklärte er. »Sie hat sich sicher geirrt.«
Kommissarin Wilhelmsen schwieg. Diese peinliche Pause war zu ihrem Vorteil. Das wußte er; er räusperte sich schnell, dann schaute er auf die Uhr und fügte hinzu, er komme zu spät zu einem wichtigen Termin.
»Könnten Sie sich morgen früh um acht zu einem kurzen Gespräch bei mir einfinden?« fragte sie, ohne ihn vorbeizulassen.
Er dachte kurz nach.
»Morgen früh? Hm, ja, das ist nicht so leicht, glaube ich. Ich habe im Moment so viel zu tun.«
»Es ist ziemlich wichtig. Also, wir sehen uns um acht, ja?«
Ihm war offenbar überhaupt nicht wohl in seiner Haut.
»Na gut, dann um acht. Vielleicht ein paar Minuten später?«
»Von mir aus gern.« Sie lächelte. »Ein paar Minuten mehr oder weniger spielen wirklich keine Rolle.«
Dann ließ sie ihn vorbei. Sie schaute ihm nach, als er zu seinem Auto ging und einstieg. Danach besuchte sie ihren alten Freund im ersten Stock. Dort wurde sie abermals überschwenglich begrüßt und erfuhr, was sie nicht sonderlich überraschte: daß ein sehr netter Mann, der Vater dieses armen Mädchens, zu einem gemütlichen Schwatz hereingeschaut hatte.
Hanne Wilhelmsen achtete kaum auf das, was der Alte sagte. Eine knappe Viertelstunde und eine halbe Tasse Kaffee später bedankte sie sich und ging. Mit bekümmert gerunzelter Stirn stieg sie auf die Harley, ließ jedoch den Motor nicht an. Aus irgendeinem Grund hatte ihr die Begegnung mit dem Vater der vergewaltigten jungen Frau das Gefühl gegeben, an einer Art Wettlauf teilzunehmen. Und dieser Wettlauf gefiel ihr überhaupt nicht.
Es war übel, dermaßen auf frischer Tat ertappt zu werden. Er ärgerte sich darüber, daß er so schlecht auf die Begegnung mit dieser Polizistin vorbereitet gewesen war. Es war doch klar, daß er mit einem solchen Zusammentreffen rechnen mußte, und dennoch hatte er diese Gefahr nicht in Betracht gezogen. Das würde ihm morgen ein peinliches Verhör einbringen. Na gut. Darauf mußte er es ankommen lassen.
Er war nachmittags noch einmal zu dem Haus gegangen, und nun mußte er nur noch mit einem Mann im vierten und einer jungen Frau im zweiten Stock sprechen. Allerdings war das nicht wichtig, denn die anderen Nachbarn hatten ihm erzählen können, daß der Mann seit zwei Monaten im
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