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Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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ungeheuer spartanisch möbliert. Sie war identisch mit der Wohnung seiner Tochter, wirkte aber trotzdem kleiner. Wahrscheinlich, weil es an Möbeln fehlte. An der einen Wohnzimmerwand stand ein Sofa. Da es weder Tisch noch Sessel gab, konnte es wohl kaum als Sitzecke bezeichnet werden. Offenbar diente das Sofa auch als Bett, denn als er einen Blick ins Schlafzimmer warf, sah er, daß es mit Ausnahme von zwei Koffern in einer Ecke vollständig leer war. Im Wohnzimmer standen noch ein kleiner Eßtisch und ein Holzstuhl. An der Wand dem Sofa gegenüber stand auf einem Tischchen ein kleiner Fernseher, vermutlich schwarzweiß. Der Boden war kahl. Die Wände ebenfalls, abgesehen von dem großen, nicht gerahmten Farbfoto eines stattlichen Mannes mit Adlernase und überdekorierter Uniform. Sofort erkannte er den letzten Schah von Persien.
    »Kommen Sie aus dem Iran?« fragte er, glücklich, auf diese Weise ein Gespräch eröffnen zu können.
    »Iran! Ja!« Die kleine Frau lächelte schüchtern. »Ich aus Iran. Ja.«
    »Sprechen Sie Norwegisch, oder wäre Ihnen Englisch lieber?« fragte er, unsicher, ob er sich wohl setzen dürfe. Er beschloß, stehen zu bleiben. Wenn er sich setzte, würde sie stehen bleiben oder sich neben ihn aufs Sofa setzen müssen. Was ihr sicher unangenehm sein würde.
    »Ich Norwegisch gut verstehe«, antwortete sie. »Schlecht spreche vielleicht.«
    »Ich finde, Sie schaffen das gut«, sagte er aufmunternd. Das Stehen ging ihm inzwischen auf die Nerven, und er kam zu einer anderen Entscheidung. Er packte den Holzstuhl, zog ihn zum Sofa und fragte, ob er sich setzen dürfe.
    »Setzen, ja«, sagte sie und schien sich nicht mehr so zu fürchten. Sie ließ sich auf der Sofakante nieder.
    »Wie gesagt.« Er räusperte sich. »Ich bin der Vater von Kristine. Kristine Håverstad. Die junge Frau aus der Wohnung über Ihnen. Sie haben vielleicht gehört, was ihr am letzten Samstag passiert ist.«
    Es war schwer, darüber zu reden. Noch dazu mit einer fremden Frau aus dem Iran, der er noch nie begegnet war und die er wahrscheinlich niemals Wiedersehen würde. Wieder räusperte er sich. »Ich erkundige mich einfach auf eigene Faust. Das ist wichtig für mich. Ich nehme an, Sie haben schon mit der Polizei gesprochen.«
    Die Frau nickte.
    »Waren Sie hier, als es passiert ist?«
    Sie zögerte offensichtlich, und er begriff nicht, warum sie überhaupt Vertrauen zu ihm hatte. Vielleicht wußte sie das ja selbst nicht.
    »Nein, ich war nicht hier. Ich in Dänemark. Bei Freunde. Aber ich nicht Frau von Polizei sage. Ich sage, ich schlafe.«
    »Ach. Sie haben Freunde in Dänemark.«
    »Nein. Keine Freunde in Dänemark. Keine Freunde in Norwegen. Aber Freunde in Deutschland. Die getroffe in Kopenhagen. Lange, lange nicht gesehen. Ich Sonntag spät wieder hier.«
    Die Frau war nicht eigentlich schön, hatte aber ein starkes, warmes Gesicht. Sie war viel heller, als er es je bei ihren Landsleuten gesehen hatte, und wies keinen der Züge auf, die er mit Menschen aus ihrem Erdteil verband. Sie war zwar dunkel, aber ihr Haar war nicht blauschwarz und auch nicht dunkelbraun. Es war eher das, was seine Frau in alten Zeiten als »mausgrau« bezeichnet hätte, aber es war glänzend und dicht. Und sie hatte blaue Augen!
    Mit Hilfe von Gesten und englischen Einsprengseln konnte sie ihm ihre traurige Geschichte erzählen. Sie war ein Flüchtling und wartete seit dreizehn endlosen bürokratischen Monaten darauf, daß ihr Antrag auf Asyl im Königreich Norwegen behandelt würde. Ihre Familie war in alle Himmelsrichtungen verstreut, und groß war sie auch nicht mehr. Ihre Mutter war vor drei Jahren eines natürlichen Todes gestorben, viele Jahre nachdem ihr Vater nach Norwegen geflohen war. Er war im Iran des Schahs Rechtsanwalt gewesen, und die Familie hatte auf der Sonnenseite der Gesellschaft gelebt. Das hatte sich nach dem Sturz des Regimes gerächt. Zwei Brüder waren in den Gefängnissen der Ajatollahs umgebracht worden. Ihre Schwester und sie selbst waren zunächst davongekommen. Bis vor anderthalb Jahren. Einer aus ihrer Zelle war festgenommen worden. Nach dreitägigem Verhör hatte er alles verraten. Einen Tag später war er tot gewesen. Noch einen Tag später hatten Soldaten vor ihrer Tür gestanden. Aber inzwischen war sie gewarnt worden und hatte sich mit Hilfe von Gesinnungsgenossen durch ein Schlupfloch über die türkische Grenze retten können. In der Türkei hatte sie ein Flugzeug nach Norwegen genommen und war davon

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