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Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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ausgegangen, nun mit ihrem Vater Zusammenleben zu können. Auf dem Flugplatz hatte die Fremdenpolizei ihr erzählt, daß ihr Vater drei Tage zuvor einem Herzanfall erlegen sei. Ein Anwalt, der ihr unmittelbar nach ihrer Ankunft im Flüchtlingsheim Tanum zugewiesen worden war, hatte schnell feststellen können, daß sie die Hinterlassenschaften ihres Vaters geerbt hatte. Die erschöpften sich in einer schuldenfreien Wohnung, fünf prachtvollen Perserteppichen, einigen Möbelstücken und einem Bankkonto mit vierzigtausend Kronen. Teppiche und Möbel hatte sie verkauft. Sie hatten über hunderttausend Kronen eingebracht, die sie in den Iran geschickt hatte, in der Hoffnung, damit ihrer Schwester helfen zu können. Sie hatte daraufhin nichts von ihrer Schwester gehört, was sie aber auch nicht erwartet hatte. Sie konnte nur das Beste hoffen. Von den vierzigtausend Kronen auf dem Konto bestritt sie ihren Lebensunterhalt. Auf diese Weise fiel sie der norwegischen Gesellschaft nicht zur Last.
    »Ich Glück. Nicht in Tanum wohne. Hier wohne. Viel besser für mich.«
    Der Ausflug nach Dänemark war illegal gewesen, da sie als Asylbewerberin ohne Paß hier lebte und das Land nicht verlassen durfte. Aber aufgrund ihres untypischen Aussehens ging sie zumindest bei überarbeiteten Zollbeamten als Skandinavierin durch. Sie hatte keine Probleme gehabt. Aber das bedeutete auch, daß sie ihm überhaupt nicht weiterhelfen konnte.
    Er erhob sich.
    »Na gut. Auf jeden Fall vielen Dank. Und weiterhin viel Glück!«
    In der Tür blieb er stehen und reichte ihr die Hand.
    »Ich hoffe, die Polizei behandelt Sie gut.«
    Er war sich nicht sicher, hatte aber das Gefühl, daß für den Bruchteil einer Sekunde ein Hauch von Unsicherheit über ihre Augen huschte.
    »Ich meine, ich hoffe, Sie dürfen in Norwegen bleiben«, präzisierte er.
    »Ich hoffe auch so«, sagte sie.
    Er war schon unterwegs in den ersten Stock, als die Tür ins Schloß fiel. Das Klirren der Sicherheitskette, die nun wieder vorgelegt wurde, begleitete ihn bis nach oben. Auf dem Treppenabsatz blieb er kurz stehen, mit dem seltsamen Gefühl, etwas übersehen zu haben. Einige Sekunden später konnte er dieses Gefühl abschütteln; er klingelte an der nächsten Wohnung.
    Die brutale Vergewaltigung in Homansbyen lag nun schon vier Tage zurück, aber sie war der Aufklärung um keinen Schritt näher gekommen. Eher im Gegenteil. Hanne Wilhelmsens Arbeit hatte erschreckend wenig Ertrag gebracht. Eine ungewöhnlich heftige Frustration fiel über sie her.
    Aber was sollte sie tun? Den Vortag hatte sie fast ausschließlich mit Zeugenverhören in zwei von ihren anderen Fällen verbracht. Diese Fälle waren überreif, wütende Mahnschreiben der Anwälte schrien sie vom Unterlagenstapel her geradezu an. Und es standen noch mindestens fünf Verhöre im schwerer wiegenden Fall aus, einer dramatischen Messerstecherei, bei der das Glück größer gewesen war als der Verstand und das Messer die Hauptschlagader im Oberschenkel des Opfers nur um wenige Millimeter verfehlt hatte. Wann sie die Zeit für diese fünf Zeugenbefragungen finden sollte, war ihr ein Rätsel.
    Der Inzestfall lastete auf ihr wie eine unbezahlte Rechnung von ziemlicher Höhe; das Verfallsdatum hatte er längst überschritten. In der letzten Nacht hatten schlechtes Gewissen und böse Träume sie aus dem Schlaf aufschrecken lassen. Sie würde das nächste Verhör in dieser Sache früher ansetzen müssen, als ursprünglich geplant. Es würde einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Zuerst standen ein Hausbesuch und eine »Kennenlern-Runde« an. Danach würde es Limo in der Kantine, eine Runde im Streifenwagen und eine »Der Polizei vertrauen«-Aktion geben. Sie hatte keinen ganzen Tag. Sie hatte nicht einmal einen halben.
    Die Stapel von Ordnern vor ihr verursachten ihr Übelkeit. Wenn die Bevölkerung der Stadt auch nur eine Ahnung davon gehabt hätte, wie hilflos die Polizei derzeit in der Welle von Verbrechen gegen das Untergehen kämpfte, dann wäre sie in ein Protestgeheul ausgebrochen, das der Polizei sofort hundert Millionen und fünfzig neue Stellungen beschert hätte. Im Moment war der verbrechensvorbeugende Effekt der Polizei die pure Illusion. Höchste Zeit für einen großen Coup, dachte Hanne Wilhelmsen. Neunundneunzigprozentige Chance, nicht erwischt zu werden.
    Das hätte sie lieber nicht denken sollen.
    Der Überfallalarm plärrte los. Die Sprechanlage schaltete sich ein, und alle hörten die tiefe, monotone Stimme

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