Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
halb geschlossen. Über das andere hing eine dunkle, verklebte Haarsträhne, so gleichmäßig, daß sie fast wie ein verrutschtes Haarband oder eine Augenklappe aussah. Fast wie bei einem Seeräuber …
Schon nach wenigen Minuten hörte Frau Hansen die Streifenwagen näher kommen. Sie richtete sich auf, strich sich mit steifer Hand über die Krampfadern an den Waden und ging dann zum Tor, um der Polizei den Weg zu zeigen.
MONTAG, 7. JUNI
Hanne Wilhelmsen war verzweifelt. Einen so abscheulichen Mordfall brauchte sie nun wirklich nicht noch zusätzlich. Sie protestierte so energisch, daß ihr Abteilungsleiter ihr die Sache fast erspart hätte. Aber nur fast.
»Hier gibt’s nichts zu diskutieren, Hanne«, sagte er schließlich in einem Tonfall, der tatsächlich keine Diskussion mehr zuließ. »Wir haben alle zuviel am Hals. Du übernimmst diesen Fall.«
Sie hätte am liebsten losgeweint. Um nichts zu tun, was sie später bereuen würde, nahm sie stumm die Papiere, die er ihr hinhielt, und verließ ohne ein weiteres Wort sein Büro. In ihrem Arbeitszimmer holte sie mehrmals tief Luft, schloß die Augen und kam plötzlich auf den Gedanken, daß dieser Fall ihr einen Vorwand liefern konnte, aus der Freitagsverabredung mit Håkon Sand auszusteigen. Zu etwas war er also doch gut.
Die Leiche war, wie die alte Frau Hansen schon getippt hatte, eine Frau gewesen. Die oberflächliche Untersuchung am Tatort legte nahe, daß sie Anfang Zwanzig gewesen war, eins sechzig groß, von ausländischer Herkunft, nackt bis auf das Stück Stoff, das fest über den Mund gebunden war, und mit durchschnittener Kehle. Das heiße Wetter und die Tatsache, daß sie weder von Plastik noch von Kleidern bedeckt war, hatten die Festlegung des Todeszeitpunktes ziemlich erschwert. Vermutlich war die Leiche stärker verwest, als das unter anderen Bedingungen der Fall gewesen wäre. Die höchst vorläufige Hypothese war, daß sie seit zwei Wochen dort gelegen hatte. Der Gerichtsmediziner hatte Bodenproben und eine genaue Bemessung der Tiefe verlangt, in der die Tote gelegen hatte. Eine etwas präzisere Festlegung des Todeszeitpunktes würde relativ bald vorliegen. Der Leichnam würde auch im Hinblick auf sexuelle Übergriffe untersucht werden. Falls die Frau nach dem Beischlaf umgebracht worden war, dann würden sich auch jetzt noch Spermareste in ihrer Vagina nachweisen lassen.
Hanne Wilhelmsen griff zu dem Polaroidbild vom Hals der Frau. Die Verletzung hatte das charakteristische Aussehen einer mit einem Stich eingeleiteten Schnittwunde. Normale Messerverletzungen waren in der Regel reine Stichwunden, kleine ellipsenförmige Öffnungen, bei denen die Eingeweide einen widerwärtigen Drang zum Hervorquellen zeigten. Schnittwunden hatten die gleichen Eigenschaften, waren aber länger und breiter. Dünner an den Enden, breiter in der Mitte. Bootsförmig. Bei dieser Wunde jedoch war, direkt unterhalb des einen Ohres, zuerst mit dem Messer zugestochen worden. Die Wunde klaffte an dieser Stelle und hatte unregelmäßige Konturen, so als ob der Täter mehrmals habe zustechen müssen, bis das Messer endlich Halt fand. Von diesem Einstich aus zog sich ein Bogen um den ganzen Hals, ein gleichmäßiger, schmaler werdender Spalt mit glatten Kanten.
Sie hatten keine Ahnung, wer die Frau sein konnte. Sie waren alle Vermißtenanzeigen des letzten Jahres durchgegangen, obwohl die Tote keinesfalls schon so lange im Garten hatte liegen können. Keine Beschreibung paßte.
Hanne Wilhelmsen wurde schwindlig. Seit einem Zwischenfall vor einigen Monaten, als sie vor ihrem eigenen Büro niedergeschlagen worden war und sich eine kräftige Gehirnerschütterung zugezogen hatte, traten diese Schwindelanfälle immer häufiger auf. Vor allem bei solcher Hitze.
Und die Arbeitsmenge machte die Sache auch nicht besser. Sie klammerte sich an die Tischkante, bis das Ärgste vorbei war, dann erhob sie sich und verließ ihr Büro. Die Uhr zeigte halb neun. Eine neue Arbeitswoche hatte den schlimmstmöglichen Anfang genommen.
Beim Treppenhaus, das in der westlichen Ecke des Gebäudes vom Erdgeschoß bis zum siebten Stock hinauf führte, stand Håkon Sand und redete mit einem Kollegen. Er trug seinen guten Anzug und schien sich überhaupt nicht wohl zu fühlen. Neben seinen Füßen stand ein Dienstkoffer.
Als er Hanne sah, hellte seine Miene sich ein wenig auf. Er beendete seinen Plausch mit dem Kollegen, und der wanderte über die Galerie davon.
»Ich freu’ mich auf
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