Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Plastikspaten. Das letzte Haus vor dem Wald war seit zehn Jahren unbewohnt, und das war dem Grundstück auch anzusehen. Wenn die Auffahrt nicht von einer dicken Schicht feinkörnigen Kieses bedeckt gewesen wäre, dann wäre sie mit dem überwucherten Garten in eins übergegangen.
»Kristoffer«, schluchzte seine Mama und stürzte ihm entgegen.
Überrascht von dieser heftigen Begrüßung, ließ er sich hochheben und so fest drücken, daß es ihm fast den Atem verschlug.
»Ich hab’ ’nen Seeräuber gefunden, Mama«, sagte er stolz und munter, »’nen echten Seeräuber!«
»Schön, mein Kleiner«, sagte seine Mutter. »Schön. Aber du mußt mir versprechen, daß du nie mehr so weit wegläufst. Mama hat schreckliche Angst gehabt, weißt du. Und jetzt gehen wir nach Hause und trinken Saft. Du hast doch bestimmt argen Durst.«
Völler Dankbarkeit sah sie die andere Frau an.
»Vielen Dank, wirklich tausend Dank. Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«
»Keine Ursache«, lächelte die Nachbarin und nahm den Jungen an einer Hand, um die kleine Familie nach Hause zu bringen.
»Ich muß dir doch den Seeräuber zeigen, Mama«, protestierte der und riß sich von beiden Frauen los. »Du muß’ mein’ Seeräuber sehen!«
»Heute nicht, mein Junge, laß uns lieber zu Hause mit deinem Seeräuberschiff spielen.«
Die Unterlippe des Kleinen fing an zu zittern.
»Nein, Mama. Ich will den echten Seeräuber sehen!«
Breitbeinig und trotzig stand er mitten auf dem Weg und wollte nicht nachgeben. Frau Hansen, die Nachbarin, griff ein.
»Jetzt gucken wir uns mal deinen Seeräuber an, und dann kommst du mit deiner Mama zu mir nach Hause. Dann machen wir es uns gemütlich, nicht wahr?«
Letzteres war an die junge Frau gerichtet. Die lächelte wieder dankbar, nahm ihr Kind an die Hand, und dann gingen sie alle drei in den überwucherten Garten. In Wirklichkeit waren auch die beiden Erwachsenen ein wenig neugierig auf das, was der Kleine da gefunden hatte.
Selbst an diesem strahlenden Sonntag nachmittag wirkte das Haus ein wenig unheimlich. Der Putz war fast vollständig abgeblättert. Irgendwer, vermutlich Jugendliche, hatten sich eines Abends damit amüsiert, sämtliche Fenster einzuschlagen. Das war schon lange her, und auch junge, rastlose Seelen interessierten sich nicht mehr für das Haus, das jetzt als nackte Beute für den Zahn der Zeit dalag. Im Garten standen die Brennesseln an vielen Stellen fast einen Meter hoch. Aber hinter dem Haus, wo wohl seit Jahren niemand gewesen war, kämpfte eine Art Rasenfläche noch immer um ihr Leben und hatte bisher so einigermaßen standgehalten. Wobei die Bezeichnung »Rasenfläche« doch kräftig übertrieben war. Es sah schon eher wie eine Wiese aus.
Als sie um die Ecke gebogen waren, rannte der Junge zu einem Geräteschuppen hinten im Garten. Die Mutter hatte Angst, er könnte in der halboffenen Tür verschwinden, und rief ihm eine Warnung zu. Das war nicht nötig. Der Junge wollte nicht hinein. Er hockte sich vor eine Wand, lächelte die beiden Erwachsenen ungemein stolz an, zeigte mit dem Spaten auf ein kleines Loch und erklärte lauthals: »Da! Da ist mein Seeräuber!«
Es war ein Menschenkopf. Die junge Frau packte den Jungen instinktiv und wich mehrere Meter zurück.
Er schrie: »Will gucken! Will gucken!«
Frau Hansen brauchte nur einige Sekunden, dann ergriff sie mit leiser Stimme das Kommando.
»Bring ihn weg von hier. Sag meinem Mann, er soll die Polizei anrufen. Ich warte hier. Mach schnell!«
Letzteres fügte sie hinzu, weil die rothaarige Mutter hilflos und wie gelähmt das Loch im Boden anstarrte. Sie riß sich von diesem grausigen Anblick los und rannte mit dem heulenden und zappelnden Jungen los; Spaten und Eimer blieben liegen.
Kristoffer hatte eine Stelle von vielleicht vierzig Quadratzentimetern aufgebuddelt. Der Kopf lag nicht tief in der Erde, höchstens dreißig Zentimeter. Frau Hansen begriff nicht, wie der Junge das geschafft haben konnte. Vielleicht hatte irgendein Tier schon Vorarbeit geleistet.
Es konnte sich um eine Frau handeln. So sah es jedenfalls aus. Ein Stoffstück, das offenbar um den Kopf gebunden war, verdeckte den unteren Teil des Gesichtes. Die Leiche hatte den Mund geöffnet, und die Zähne des Oberkiefers hatten sich über die Binde geschoben. Unter dem Stoffstück war deutlich eine Vertiefung zu sehen, der Mund bildete ein großes O. Die Nasenlöcher waren ungewöhnlich groß und mit Erde gefüllt. Nur ein Auge war zu sehen. Es war
Weitere Kostenlose Bücher