Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
murmelte sie, als sie ein Stück weit über den Flur gegangen war.
Ein heruntergekommener Mann hockte auf einem unbequemen Stuhl und wartete auf irgendein Verhör. Er fühlte sich offenbar getroffen und starrte verlegen zu Boden.
»Du doch nicht«, fügte sie hinzu und marschierte weiter.
In ihrem Büro saß Erik Henriksen und wartete gespannt. Er erhielt keine Erklärung, nur die überaus höfliche Bitte, sofort Kristine Håverstad ausfindig zu machen, zum Henker. Sie brauchten sie. Und zwar sofort. Vor einer Stunde. Er rannte los.
Sie selbst schlug im Telefonbuch die Nummer der Ausländerbehörde nach. Sie holte fünfmal tief Luft, um sich zu beruhigen, und wählte die Nummer.
»Cato Iversen bitte«, sagte sie.
»Der ist zwischen zehn und zwei zu erreichen. Rufen Sie dann wieder an«, sagte die trockene, ausdruckslose Stimme.
»Hier ist die Polizei. Ich muß ihn sprechen. Sofort.«
»Wie war noch gleich der Name?«
Die Frau gab nicht so leicht nach.
»Hanne Wilhelmsen, Polizei Oslo.«
»Einen Moment.«
Das war die pure Untertreibung. Nach vier Minuten ohrenbetäubenden Schweigens ohne auch nur einen Mucks im Stil von »Hier Ausländerbehörde, bitte warten Sie« unterbrach sie die Verbindung und drückte die Wahlwiederholungstaste.
»Ausländerbehörde, ja bitte?«
Es war dieselbe Frau.
»Hier ist Hanne Wilhelmsen, Mord-, Totschlags- und Vergewaltigungskommission, Polizei Oslo. Ich muß augenblicklich mit Cato Iversen sprechen.«
Die Dame war offenbar bei dem eigens zu dieser Gelegenheit ersonnenen Namen sehr erschrocken. Zehn Sekunden später meldete sich Cato Iversen. Er nannte nur seinen Nachnamen.
»Guten Tag«, sagte Hanne so neutral, wie es ihr im Moment nur möglich war. »Hier spricht Hanne Wilhelmsen, Kriminalpolizei Oslo.«
»Ach«, sagte der Mann, ohne einen Hauch von Besorgnis, wie es Hanne schien. Er ist wahrscheinlich daran gewöhnt, mit der Polizei zu telefonieren, tröstete sie sich schnell.
»Ich möchte Sie in Verbindung mit einem Fall, den wir bearbeiten, zum Verhör bitten. Es ist ziemlich eilig. Können Sie kommen?«
»Jetzt? Sofort?«
»Ja, so schnell wie möglich.«
Der Mann schien nachzudenken. Jedenfalls folgte eine Pause.
»Das ist bedauerlicherweise unmöglich. Es tut mir sehr leid. Aber ich …« Sie hörte ihn in Papieren blättern. Vermutlich sah er in seinem Terminkalender nach. »Ich kann am nächsten Montag kommen.«
»Das geht leider nicht. Ich muß jetzt mit Ihnen sprechen. Wahrscheinlich dauert es nicht lange.«
Was eine glatte Lüge war.
»Worum geht es denn?«
»Darüber reden wir, wenn Sie hier sind. Ich erwarte Sie in einer Stunde.«
»Nein, also wirklich! Das geht nicht. Ich muß bei einem von unseren Fortbildungskursen einen Vortrag halten.«
»Ich schlage vor, daß Sie sich sofort herbemühen«, sagte Hanne leise. »Sagen Sie, Sie seien krank, egal was. Ich kann Sie natürlich auch holen kommen. Aber vielleicht erscheinen Sie doch lieber freiwillig hier.«
Jetzt war der Mann ganz offenbar nervös. Aber wer wäre das nicht nach diesem Gespräch, dachte Hanne und beschloß, den Stimmungsschwankungen dieses Mannes nicht zuviel Gewicht beizumessen.
»Ich kann in einer halben Stunde bei Ihnen sein«, sagte er schließlich. »Vielleicht dauert es etwas länger. Aber ich komme.«
Kristine Håverstad wußte nicht, was sie machen sollte. Ihr Vater war wie immer um acht zur Praxis aufgebrochen. Aber sie war sich nicht mehr sicher, ob er wirklich dorthin ging. Um ihren Verdacht zu bestätigen, rief sie an und verlangte ihren Vater.
»Aber liebe Kristine«, antwortete die Sprechstundenhilfe. »Der hat doch Urlaub. Weißt du das denn nicht?«
Kristine gab sich alle Mühe, die Frau davon zu überzeugen, daß alles auf einem Mißverständnis beruhe, und legte auf. Sie wußte ganz genau, daß ihr Vater sein Vorhaben in die Tat umsetzen würde. Sie hatten am letzten Abend über eine Stunde miteinander gesprochen, länger und mehr als an sämtlichen zehn Tagen davor.
Das Schlimmste war, daß dieser Gedanke befreiend wirkte. Er war grotesk, erschreckend, wahnwitzig. So etwas tat man einfach nicht. Nicht hierzulande jedenfalls. Aber der Gedanke, daß der Mann sterben würde, erleichterte sie. Sie fühlte sich auf seltsame Weise angeregt, empfand eine Art von Genugtuung. Er hatte zwei Leben zerstört. Er verdiente nichts Besseres. Die Polizei rührte ja offenbar keinen Finger, um ihn zu fassen. Und wenn es ihnen doch gelingen sollte, dann würde er
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