Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
anzusehen war. Die beiden musterten ihn genau, konnten aber weiterhin nur ein wenig Nervosität erkennen. Iversen hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Deshalb platzte er mit der Wahrheit heraus.
»Lkw fahren«, sagte er leise.
Billy T. und Hanne sahen einander an und lächelten breit.
»Lkw fahren«, wiederholte Hanne langsam.
»Haben Sie das auch am Samstag, dem 29. Mai, gemacht? Und was ist mit Sonntag, dem 30.?«
O verdammt. Jetzt hatten sie ihn. Bisher hatte es nur Schaugefechte gegeben. Hanne Wilhelmsens Ausbruch von vorhin zum Trotz kratzte er sich verzweifelt an der linken Hand. Die schmerzte schon, und deshalb hörte er wieder auf.
»Ich will mit einem Anwalt reden«, rief er plötzlich. »Ich sage kein Wort mehr, solange ich nicht mit einem Anwalt gesprochen habe!«
»Aber, lieber Iversen«, sagte Billy T. zuckersüß und hockte sich vor ihn hin. »Es besteht doch keinerlei Anklage gegen Sie.«
»Aber ich stehe unter irgendeinem Verdacht«, antwortete Iversen, und jetzt sahen sie Tränen in seinen Augen. »Also habe ich auch Anspruch auf einen Anwalt.«
Hanne beugte sich über ihren Schreibtisch und schaltete das Tonbandgerät aus.
»Iversen. Eins muß ich noch mal klarstellen. Wir verhören Sie hier als Zeugen. Sie stehen weder unter Verdacht noch unter Anklage. Ergo haben Sie auch keinen Anspruch auf einen Anwalt. Ergo können Sie dieses Zimmer und dieses Haus jederzeit verlassen. Wenn Sie aber mit einem Anwalt sprechen und danach noch eine Runde mit uns plaudern möchten, dann steht Ihnen das frei.«
Sie packte das Telefon und stellte es vor ihn auf den Tisch. Daneben knallte sie das Branchenverzeichnis.
»Bitte sehr«, sagte sie im Befehlston, blickte sich kurz um, weil sie sichergehen wollte, daß es in ihrem kleinen Arbeitszimmer nichts gab, was er nicht sehen durfte, griff sich einen Ordner und ging, Billy T. im Schlepptau, zur Tür. Dort blieb sie noch einmal stehen.
»In zehn Minuten sind wir wieder da«, erklärte sie.
Es dauerte etwas länger als zehn Minuten. Sie saßen im Bereitschaftsraum und tranken Hannes Gebräu vom Morgen. Das Eis war geschmolzen, der Zucker hatte sich auf den Boden des fast leeren Kessels gesenkt, und die Gerbsäure ließ das Getränk weitaus weniger erfrischend wirken als noch vor einigen Stunden.
»Jetzt kriegste’n allein an Land«, sagte Billy T. »Da brauchte ich ja nich’ viel zu sagen.«
»Allein dein Aussehen kann noch den Allerunschuldigsten dazu bringen, alles, aber auch alles zu gestehen«, grinste Hanne und leerte ihr Glas. »Und ich weiß nicht, ob er schon reif zum An-Land-Ziehen ist.«
»Er hat auf jeden Fall aus irgendeinem Grund Höllenschiß«, sagte Billy T. »Ich mein’ das übrigens wirklich so. Ich verpiss’ mich. Bin todmüde. Aber das bist du sicher auch«, fügte er hinzu und versuchte, ihren Blick aufzufangen.
Sie gab keine Antwort und hob nur ihr leeres Glas zu einem inhaltsleeren Prost, als er das Zimmer verließ. Zum Ausgleich kam Erik Henriksen hereingestürzt.
»Ich hab’ sie gefunden!« keuchte er. »Sie war sogar auf dem Weg hierher. Bin doch tatsächlich in der Tür mit ihr zusammengestoßen. Was willst du eigentlich von ihr?«
Sie hatten nur anderthalb Stunden gebraucht, um eine Gegenüberstellung zu arrangieren. Es hatte sich herausgestellt, daß es bei der Polizei überraschend viele breitschultrige blonde Mannsbilder mit schütterem Schopf gab. Fünf von ihnen würden sich nun zusammen mit Cato Iversen aufstellen. Jenseits des nur in einer Richtung durchsichtigen Glases stand nägelkauend Kristine Håverstad.
Sie war doch nicht deswegen gekommen. Um ein Haar wäre sie mit dem sommersprossigen Polizisten zusammengestoßen, als sie sehr zögerlich das Polizeigebäude betrat. Noch hätte sie Zeit gehabt, ihr Vorhaben aufzugeben – da hatte er sie freudestrahlend erkannt und mit sich gezogen. Zum Glück hatte sie nichts sagen müssen.
Hanne Wilhelmsen wirkte wesentlich müder als vor einer guten Woche. Ihre Augen sahen matter aus, ihr Mund verspannter und verbissener. Vor einer Woche hatte Kristine Håverstad sie noch auffallend schön gefunden. Jetzt war sie eine eher durchschnittliche, ungeschminkte Frau mit hübschen Zügen. Sie wirkte auch nicht sonderlich enthusiastisch, obwohl sie das Entgegenkommen selbst war.
Die sechs Männer kamen ins Zimmer wie eine Schar von wohlgenährten Gänsen. Als der erste die gegenüberliegende Seite des Raumes erreicht hatte, drehten sie sich um und starrten blind die
Weitere Kostenlose Bücher