Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
kräftig. »1960. Das waren noch Zeiten. Da machte es Spaß, bei der Polizei zu sein. Und gut verdient haben wir auch. Mehr als Industriearbeiter. Sehr viel mehr. Die Leute hatten Respekt vor uns. 1960. Damals war Gerhardsen noch Ministerpräsident, und die Leute unterstützten ihn.«
Das ganze Zimmer war bereits von Qualm erfüllt. Der Mann rauchte Selbstgedrehte und spuckte bei seinem leisen Gemurmel Tabakskrümel aus.
»Damals hatten wir zwei oder drei Vergewaltigungen pro Jahr. Großes Geschrei. In der Regel haben wir den Arsch auch erwischt. Damals waren wir hier ja fast nur Männer. Und alle haßten Vergewaltigungen. Einer wie der andere. Wir haben keine Ruhe gegeben, bis wir ihn hatten.«
Hanne Wilhelmsen hatte so etwas noch nie erlebt. Nun arbeitete sie seit sieben Jahren mit Hauptkommissar Kaldbakken zusammen und hatte nie über privatere Themen als einen verdorbenen Magen mit ihm gesprochen. Aus irgendeinem Grund nahm sie das als schlechtes Zeichen.
Kaldbakken seufzte tief, und sie hörte seine überanstrengten Bronchien gurgeln.
»Aber im ganzen war es in Ordnung, bei der Polizei zu sein«, sagte er und starrte verträumt ins Leere. »Wenn du abends in dem Bewußtsein ins Bett gehst, daß du zu den braven Buben gehörst. Und Mädels«, fügte er mit vorsichtigem Lächeln hinzu. »Das gibt dem Leben Sinn. Bisher war das jedenfalls so. Aber nach diesem Frühling weiß ich es nicht mehr so genau.«
Hanne Wilhelmsen konnte ihn gut verstehen. Es war wirklich ein entsetzliches Jahr. Immerhin, bei ihr lief es trotz allem einigermaßen. Sie war vierunddreißig Jahre alt, also zu jener Zeit geboren worden, als Kaldbakken steif und zackig in seiner frischgebügelten Uniform durch Oslos weitaus ruhigere Straßen patrouilliert war. Sie konnte sich Zeit lassen. Kaldbakken nicht. Sie ertappte sich bei der Frage, wie alt er wohl sein mochte. Er wirkte wie ein gutes Stück über sechzig, aber das war er wohl nicht. Er mußte um einiges jünger sein.
»Ich habe einfach nicht mehr viel zu geben, Hanne«, murmelte er.
Es erschreckte sie, daß er sie Hanne nannte. Bis jetzt war sie für ihn nie etwas anderes gewesen als Wilhelmsen.
»Das ist doch Quatsch, Kaldbakken«, versuchte sie ihn zu trösten, aber sie gab auf, als er abwinkte.
»Ich weiß, wann es Zeit zum Aufhören ist. Ich …«
Ein beängstigend heftiger Hustenanfall schüttelte ihn ausgiebig. Es dauerte beunruhigend lange. Am Ende erhob Hanne Wilhelmsen sich ein wenig unsicher und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Kann ich dir helfen? Möchtest du ein Glas Wasser oder so?«
Als er sich im Sessel zurücksinken ließ und nach Luft schnappte, bekam sie es wirklich mit der Angst zu tun. Sein Gesicht war graubleich und schweißnaß. Er stemmte die Hand in die Seite, schnappte nach Luft und kippte schließlich wie ein Sack vornüber. Mit einem widerwärtigen Geräusch prallte er auf dem Boden auf.
Hanne Wilhelmsen stieg über den verkrümmten Körper, drehte ihn um und schrie um Hilfe.
Als nach zwei Sekunden noch keine Antwort gekommen war, trat sie die Tür auf und schrie noch einmal: »Holt einen Krankenwagen, zum Henker! Holt einen Arzt!«
Danach versuchte sie bei ihrem erschöpften alten Chef die Mund-zu-Mund-Methode. Zweimal atmen, danach Herzmassage. Wieder zweimal atmen, danach Herzmassage. In der Brust des Mannes knackte es, und ihr ging auf, daß sie ihm einige Rippen gebrochen hatte.
Erik Henriksen stand in der Tür, verwirrt und röter denn je.
»Herzmassage«, befahl sie und konzentrierte sich aufs Atmen.
Der Junge preßte und preßte. Hanne Wilhelmsen blies und blies. Aber als neun Minuten später die Krankenträger in der Tür standen, war Hauptkommissar Hans Olav Kaldbakken mit nur sechsundfünfzig Jahren gestorben.
In einem ungemütlichen, kargen Zimmer in einer Pension in Lillehammer saß die kleine Iranerin aus Kristine Håverstads Mietshaus und war verzweifelt. Sie war einsam, entsetzlich weit von zu Hause entfernt und konnte niemanden um Rat fragen. Für Lillehammer hatte sie sich aus purem Zufall entschieden. Es lag weit weg, und das Zugticket kostete nicht allzuviel. Und sie hatte schon vom Freilichtmuseum Maihaugen gehört.
Sie hätte natürlich mit der Polizei sprechen müssen. Andererseits war auf die Polizei eben kein Verlaß. Das wußte sie aus sehr bitterer Erfahrung. Rein intuitiv hatte sie Vertrauen zu der jungen Beamtin gehabt, mit der sie am vorigen Montag kurz gesprochen hatte. Aber was wußte sie, eine kleine
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